Indien: Ein Kinderleben im Müll
Das Schwellenland boomt. Doch es gibt nicht nur Gewinner. Der kleine Salim weiß nicht einmal, was eine Schule ist.
Neu Delhi. In der Luft liegt ein beißender Gestank. Aasfresser ziehen kreischend ihre Kreise, nur übertönt von den Lastwagen, die den Berg heraufkriechen und dabei die Luft in einen safrangelben Staubnebel verwandeln. Hier und da züngeln Flammen aus Methanfeuern, die in der Hitze immer wieder ausbrechen. Wie der Vorhof zur Hölle erscheint die Müllkippe von Ghazipur am Rande der indischen Hauptstadt Neu Delhi.
Mitten in dieser apokalyptischen Szenerie steht Salim, ein schmächtiger Junge in orangefarbenem Pulli, brauner Hose und Flipflops an den dreckverkrusteten Füßen. Emsig durchwühlt der Elfjährige den Müll, den die geschätzt 22 Millionen Menschen der Metropole Tag für Tag erzeugen. Ghazipur wurde 1984 gegründet und ist damit eine der ältesten Müllhalden Indiens. Knapp 2000 Inder leben direkt am Fuße der Kippe, in Behausungen, die notdürftig aus Abfall zusammengezimmert sind.
Salim war fünf, als er mit seinen Eltern, Schwester und Bruder nach Ghazipur kam. Getrieben von der Hoffnung, der Armut zu entfliehen, hatte die Familie ihr Dorf in Bengalen verlassen. „Die Abfallwirtschaft ist meist die einzige Verdienstmöglichkeit“, berichtet Anju Sharma von der Nichtregierungsorganisation „Chitan“, die gemeinsam mit der deutschen Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ) den Menschen vor Ort hilft.
Dabei geht es auch darum, den Kindern Schulbildung mitzugeben. Am Rande der Kippe hat „Chitan“ eine Schule gegründet, doch nur wenige Kinder kommen, und wenn, dann unregelmäßig. Sie müssen Geld verdienen. So wie Salim.
Von sieben bis 18 Uhr, sechs Tage in der Woche, durchwühlt der Junge den Müll. Eine Schule hat er noch nie besucht. „Nein“, sagt der Elfjährige, er habe keine Vorstellung davon, was das sei. Aber er habe davon gehört. „Wenn ich groß bin, werde ich Rikscha-Fahrer.“ Langsam füllt sich Salims Tüte mit Plastik, Holz, einigen Haaren. „Dafür kriege ich richtig viel Geld.“ Denn aus den Haaren werden Perücken gefertigt.
Indien hat ein riesiges Müllproblem, aber auch ein raffiniertes, informelles System, um damit fertig zu werden. Der Junge verkauft seinen Fund an einen Zwischenhändler, der gibt ihn an Recycler weiter. An guten Tagen bekommt Salim 200 Rupien — gut zwei Euro. Einmal habe er 1000 Rupien gefunden. „Das war der glücklichste Tag meines Lebens.“
Indien ist ein Land der Gegensätze: Schwellenland mit 1,3 Milliarden Einwohnern, Atommacht, G20-Mitglied, boomende IT-Branche. Gleichzeitig gibt es mehr Armut als auf dem gesamten afrikanischen Kontinent. 600 Millionen haben keinen Strom. Erst 30 Prozent des Landes sind urbanisiert, bei einer Volkszählung wurden 4000 Städte „gefunden“. „Im Bereich der Entwicklungshilfe ist Indien eine Herausforderung“, sagt GIZ-Landesdirektor Stefan Helming. „Es gibt mehr Menschen mit einem Handy als mit Zugang zu einer Toilette.“
Doch Konsum produziert Abfall, und da steht Indien vor einem weiteren Problem — Elektroschrott. Bangalore im Bundesstaat Karnataka gilt als „Silicon Valley“. IT-Firmen und Wirtschaftsunternehmen haben sich dort angesiedelt. Der teils hochgiftige Müll, der in den Produktionsstätten entsteht, landet zumeist in den Slums. In Hinterhöfen sitzen die Menschen und gewinnen mit bloßen Händen Kupfer, Gold oder Platin aus dem Schrott. Die Dämpfe und Stäube, die dabei entstehen, machen die Menschen krank und verseucht das Grundwasser.
Peethambaram Parthasarathy geht mit deutscher Hilfe andere Wege. 2005 gründete er die Recyclingfirma E-Parisaraa. Im Auftrag des Bundesumweltministeriums hat die GIZ ihm vier Jahre lang einen deutschen Experten zur Seite gestellt, um die Firma nach europäischem Standard aufzubauen. 90 Mitarbeiter — vor allem Frauen — sitzen in einer Halle und filtern aus Computern, Handys oder Fernsehern Stoffe heraus. Es gibt Schutzkleidung, Pausen und medizinische Untersuchungen. „Wir sind Modell für andere Firmen im Land“, sagt der Unternehmer stolz.
An einem langen Tisch sitzt Hemavathi. Die 32-Jährige war einst Hausmädchen, für 500 Rupien im Monat. Heute verdient sie 4500 Rupien. Sie ist krankenversichert und bekommt das Schulgeld für Sohn und Tochter bezahlt. Seit ihr Mann vor zwei Jahren starb, sorgt sie allein für die Familie. „Meine Kinder sollen Ingenieure werden“, träumt sie. Zehn Minuten braucht sie für ein Handy, darin sind bis zu 24 Milligramm Gold.
Täglich werden bis zu acht Tonnen Schrott verarbeitet. 800 000 Euro habe er 2012 umgesetzt, sagt Parthasarathy. „Das hängt vom Weltmarktpreis für Metalle ab“. Dann führt der Besitzer die Besucher in einen Raum, in dem er unter anderem Batterien bunkert. „In denen ist Indium“, erklärt er. Bislang lässt sich das Schwermetall noch nicht recylen. „Aber wenn es so weit ist, dann bin ich vorbereitet.“