Der letzte Mohikaner Kritiker Joachim Kaiser gestorben
München (dpa) - „Es ist mir eigentlich egal, wer unter mir Feuilleton-Chef ist.“ So soll es der Literatur- und Musikkritiker Joachim Kaiser gesagt haben, nachdem er eben jenes Amt bei der „Süddeutschen Zeitung“ 1977 aufgegeben hatte.
Da blickte er schon auf eine lange Karriere zurück, die er auch in den folgenden Jahrzehnten mit verschiedenen Aufgaben ausfüllte - zuletzt mit einer Videokolumne auf der Webseite des „SZ-Magazins“. Am Donnerstag ist Kaiser nach längerer Krankheit im Alter von 88 Jahren in München gestorben.
„Er war jahrzehntelang der wohl einflussreichste deutsche Musikkritiker und eine prägende Stimme der Süddeutschen Zeitung“, würdigte ihn das Blatt in einem ausführlichen Nachruf auf der Internetseite. Er habe die Zeitung, ja das ganze Land geprägt.
Für den „Vermittler der Schönen Künste“ war die Kritik durchaus „eine eigene künstlerische Anstrengung“, sonst wäre Literatur- oder Musikkritik doch „nur eine blöde Bestandsaufnahme“, sagte Kaiser einmal. Der „ostpreußische Bayer“ fing 1951 bei der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ und den „Frankfurter Heften“ an. Über den Hessischen Rundfunk schaffte er es bis zum Leitenden Redakteur im Kulturressort der „Süddeutschen Zeitung“ und damit neben dem anderen „Kritikerpapst“, seinem Freund Marcel Reich-Ranicki, zum wohl bedeutendsten und auch bekanntesten „Starkritiker“ der Republik.
In öffentlichen Ehrungen hörte sich das etwas anders an, wenn davon gesprochen wurde, dass Kaiser „wesentliche Impulse für das Verständnis von Musik und Literatur in unserem Land“ gegeben habe. Man kann es auch leidenschaftlicher sagen, zum Beispiel, dass Kaiser als „menschenfreundlicher Kritiker und glühender Liebhaber der Kunst“ schreibe - und zwar darüber, „was das Leben lebenswert macht“, wie er es selbst formulierte. „Die Kunst kann den Horizont erweitern und auch sensibel machen. Und man hat dadurch vielleicht auch mehr Fähigkeiten, den Reichtum an Glück und Empfindsamkeiten aufzunehmen.“ Vor allem aber auch, den „Akku unserer Seele“ wieder aufzuladen, den so viele Menschen seiner Meinung nach im Alltag schnell vernachlässigten und Kultur leichtsinnigerweise als „Luxus“ betrachteten. Aber „der Mensch lebt nicht vom Brot allein“.
„Speere werfen und die Götter ehren“ war sein von Schiller und dem Kritiker-Vorbild Alfred Kerr (1867-1948) entlehntes Berufsmotto. „Kritik trifft das Ego viel mehr als Lob“, sagte er mal der Deutschen Presse-Agentur. Auch wenn es dem Wesen Kaisers widersprach, andere Menschen wirklich zu verletzen, wusste er, dass eine übermäßige Vorsicht in seiner Zunft auch schnell langweilig wirken kann. Aber die Wahrheit in der Kunst komme nur durch Kritik, Streit und Diskussion zum Vorschein. Er war überzeugt, „nur wer liebt darf kritisieren“. Im übrigen seien auch Kritiker kritikempfindlich.
Kaiser wurde im Dezember 1928 als Sohn eines Landarztes im ostpreußischen Milken geboren, ging in Hamburg zur Schule, studierte in Göttingen, Tübingen und Frankfurt am Main Musikwissenschaft, Germanistik und Philosophie. Zu seinen Lehrern zählte Theodor W. Adorno. Er erlebte einen Kosmos der bundesrepublikanischen Zeit- und Kulturgeschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wozu auch Begegnungen mit Autoren und Künstlern wie Leonard Bernstein, Günter Grass, Max Frisch und Artur Rubinstein gehörten. Von seinen frühen Nachkriegserlebnissen und Aktivitäten in der legendären „Gruppe 47“ ganz zu schweigen. Als er 1977 den Posten des Feuilleton-Chefs bei der „Süddeutschen“ aufgab, lehrte er als Professor an der Hochschule für Musik und darstellende Künste in Stuttgart.
Was die Vorbilder angeht: Kaiser selbst sah sich als „der letzte Mohikaner“ seiner Zunft, jedenfalls gab er seinen Lebenserinnerungen diesen Titel (Ullstein). Als man ihn einmal fragte, warum es solche Titanen der Kulturkritik wie ihn nicht mehr gebe, vielleicht nie mehr geben könne, antwortete er dem Nachruf zufolge: „Weil die jungen Menschen keinen Mut zum Pathos haben.“