Prozess Leiche an der A 44 - wenn Gerechtigkeit zur Zeitfrage wird

Seit Jahren soll Murat S. aus Baesweiler der Prozess gemacht werden, doch er erscheint einfach nicht vor Gericht.

Foto: Ralf Roeger

Aachen. Als Mitte Januar der Prozess beginnen sollte, waren alle erschienen, nur der Angeklagte nicht, Murat S. aus Baesweiler. Es war der Tag seines 37. Geburtstages, aber das war kein Grund, schon wieder nicht vor Gericht zu erscheinen. Immerhin ging es um einen Fall, an dessen Ende eine junge Frau gestorben war, deren Leiche einige Straßenarbeiter am Abend des 15. Mai 2014 in einem Gebüsch an der A 44 gefunden hatten, ein paar Hundert Meter vor der Abfahrt Aachen-Brand.

Die Richterin schickte zwei Polizisten los, die Murat S. an seiner Meldeadresse in Baesweiler abholen und zum Gericht nach Aachen bringen sollten, doch Murat S. war nicht zu Hause. Seine Mutter öffnete die Tür und sagte, ihr Sohn habe das Haus am Morgen verlassen. Wohin, wusste sie angeblich nicht.

Seit fast zweieinhalb Jahren versucht die Aachener Justiz, Murat S. vor Gericht zu stellen, doch es kommt einfach nicht zum Prozess, weil er zu den anberaumten Terminen nicht vor dem Amtsgericht erscheint. Es ist bei Amtsgerichtsverfahren keine Seltenheit, dass Angeklagte nicht erscheinen, wie ein Sprecher des nordrhein-westfälischen Justizministers Thomas Kutschaty (SPD) gegenüber unserer Zeitung erklärte.

Nur geht es bei den meisten Amtsgerichtsverfahren eben nicht um schwere Straftaten. Haftstrafen ohne Bewährung werden an Amtsgerichten nicht übermäßig oft verhängt. Es ist unüblich, dass vor Amtsgerichten Prozesse stattfinden, in denen Leichen eine Rolle spielen. Mord- und Totschlagsprozesse finden normalerweise in der höheren Instanz am Landgericht statt, die Angeklagten sitzen oft in Untersuchungshaft.

Dass Murat S. Ende Juli 2014 überhaupt als Tatverdächtiger identifiziert wurde, war eher ein Zufall, die Ermittlungen der Aachener Staatsanwaltschaft waren bis dahin ins Leere gelaufen. Nach dem Fund der Frauenleiche am 15. Mai 2014 war es der Rechtsmedizin nicht mehr möglich, die Todesursache zu bestimmen. Erst nach einigen Tagen stand fest, dass es sich bei der Toten um eine 30 Jahre alte Frau afrikanischer Abstammung handelte, die bis zu ihrem Tod in Aachen gelebt hatte.

Als ein Zeuge die Ermittler auf die Spur von Murat S. gebracht hatte, konnte die Staatsanwaltschaft am Ende folgenden Tatablauf rekonstruieren: Am Abend des 24. April 2014 hatte Murat S. Kokain von der Frau gekauft, das er gemeinsam mit ihr im Keller eines leerstehenden Hauses in der Aachener Innenstadt konsumierte. Dabei gerieten sie in Streit, dessen Grund nicht abschließend ermittelt werden konnte.

Im Laufe des Streits biss die 30-Jährige in den Daumen von Murat S., danach attackierte sie ihn mit einem Küchenmesser und verletzte ihn an der Wange. Als sie aus dem Keller fliehen wollte, hielt Murat S. sie fest und begann, mit einem Wasserkocher auf sie einzuschlagen. Die Frau wurde an Brust und Hals verletzt und verlor das Bewusstsein. Murat S. ließ sie liegen und machte sich auf den Weg in ein Krankenhaus, um eigene Verletzungen behandeln zu lassen.

Drei Tage nach dem Vorfall im Keller wurde Murat S. am Daumen operiert, am 30. April wurde er aus der Klinik entlassen. Nach seiner Entlassung ging er zurück in den Keller, in dem er die 30-Jährige hatte liegen lassen. Sie war tot. Wann sie starb, ließ sich im Nachhinein ebenso wenig rekonstruieren wie die Todesursache. Denn ihr Tod könnte laut Staatsanwaltschaft sowohl auf die Schläge mit dem Wasserkocher als auch auf den Kokainkonsum zurückzuführen sein — oder auch auf eine Wechselwirkung von beidem. Nach seiner eigenen Darstellung schaffte Murat S. die Frau am Abend des 30. April 2014 aus dem Keller, legte sie in einen Einkaufswagen und schob sie mehr als fünf Kilometer zu Fuß durch Aachen.

Die Staatsanwaltschaft klagte Murat S. wegen Mordes an, doch das Landgericht Aachen ließ die Anklage nicht zu. Die Richter argumentierten, es könne zwar sein, das Murat S. die 30-Jährige getötet habe; da aber die Todesursache nicht mehr festzustellen sei, gebe es keinen Beweis dafür. Die Anklage wurde geändert und lautet nun auf gefährliche Körperverletzung. Statt einer lebenslangen Haftstrafe drohen Murat S. jetzt zwischen sechs Monaten und zehn Jahren Haft.

Am 7. August 2014 wurde der unter anderem wegen Diebstahls, Betrugs und Körperverletzung vorbestrafte Murat S. in Untersuchungshaft genommen, doch der Haftbefehl wurde am 3. Dezember 2014 wieder aufgehoben. Es lägen keine Haftgründe vor, stellte das Landgericht Aachen fest. Als Murat S. am 20. Juli 2015 nicht zu seinem Prozess am Amtsgericht Aachen erschien, wurde erneut ein Haftbefehl erlassen.

Vom 27. Juli bis zum 12. August 2015 saß Murat S. ein weiteres Mal in U-Haft, bis auf seine Beschwerde hin auch dieser Haftbefehl aufgehoben wurde. Der nächste Versuch, den Prozess zu eröffnen, fand am 12. Februar 2016 statt, doch wieder erschien Murat S. nicht. Zwischen dem 7. Juli und dem 10. Oktober 2016 saß Murat S. wegen eines anderen Falls in U-Haft, doch zwei weitere Termine für den Prozessauftakt scheiterten, dieses Mal wegen der Rechtsanwälte.

Richterin Miriam Keil unternahm am 16. Januar einen neuen Versuch. Alle waren gekommen, nur Murat S. wieder nicht. Und so erließ die Richterin einen weiteren Haftbefehl, der allerdings noch nicht vollstreckt ist. Wo sich Murat S. im Moment aufhält, weiß die Aachener Justiz nicht.