Lieblingsplatten 2011: Von Pop über Indie bis Klassik
Der Branchenkrise zum Trotz: Tausende neue Alben sind auch dieses Jahr erschienen. Hörenswert sind nicht alle. Aber es gibt auch echte Perlen.
Berlin (dpa) - In den Hitparaden waren vermutlich Lady Gaga, Coldplay oder David Garrett am erfolgreichsten. Musikkritiker und Musikliebhaber haben da oft ganz andere Favoriten. Sechs dpa-Redakteure präsentieren hier ihre jeweilige Lieblingsplatte des Jahres - eine bewusst subjektive Auswahl.
ROCK-ALBUM DES JAHRES: Wilco - „The Whole Love“ (dBpm/ANTI-) Von Werner Herpell, dpa
Die Gründung eines unabhängigen eigenen Labels setzte bei dieser vielleicht weltbesten Live-Band im heimischen Chicagoer Studio neue Kreativkräfte frei. Auch deshalb gelang Wilco das klügste, vielseitigste, schönste Album ihrer 17-jährigen Karriere. Die Lieder der sechs Virtuosen vereinten Mut zum Experiment, Spielfreude und Sensibilität. Mit dem Elektrorock-Kracher „Art Of Almost“ zu Beginn brachte die vom knorrigen Jeff Tweedy geführte Band mühelos Radiohead, Beatles und Neil Young unter einen Hut. Das abschließende „One Sunday Morning“ verzauberte mit zartem Folkpop über satte zwölf Minuten. Dazwischen kein Füllstoff, nur große Songs. Danke dafür.
POP-ALBUM DES JAHRES: Selah Sue - „This World“ (Warner Music) Von Patrick T. Neumann, dpa
Zuerst das Knistern einer Plattennadel in der Rille, dann ein wummernder Bass und am Ende diese schmachtende Soul-Stimme: Gänsehaut. Besser kann ein Debütalbum, ein Album überhaupt, kaum anfangen. Der Titeltrack „This World“ der Belgierin Selah Sue verspricht so viel - und kann alles halten. Direkt im Anschluss bohrt sich das elegisch-hip-hoppige „Peace Of Mind“ in den Gehörgang, es klingt Reggae an („Raggamuffin“), Funk („Black Part Love“) und Lagerfeuer-Klampfen-Songwriter-Pop („Mommy“). Jedes Lied der Songschreiberin ist ein Unikat. Die 22-jährige Sanne Putseys hält alle Songs zusammen mit ihrem Groove und ihrer Stimme irgendwo zwischen erwachsener Fülle, Jungmädchen-Zerbrechlichkeit und Hip-Hop-Frechheit. Eine Entdeckung.
INDIE-ALBUM DES JAHRES: Feist - „Metals“ (Polydor/Universal) Von Julian Mieth, dpa
Rund vier Jahre war die Sängerin Leslie Feist von der Bildfläche verschwunden - nach dem überwältigenden Erfolg ihres 2007er Albums „The Reminder“ fehlte ihr der Sinn im Songschreiben. Nun meldete sich die Kanadierin zurück, im Gepäck ein neuer, gereifter Sound. Wurde der lebensfrohe Vorgänger (leider) zum Soundtrack einer Latte-Macchiato-Generation, ist „Metals“ eine bisweilen düstere Reflexion über Sein, Leben und Liebe. Vor allem aber feiern die zwölf meist ruhigen Songs diese wunderbare Stimme. Dass sie sich dabei nicht nur für Seelenbalsam zuständig fühlt, zeigt Feist im treibenden „A Commotion“. Für viele das Comeback des Jahres.
ALTERNATIVE-ALBUM DES JAHRES: David Lynch - „Crazy Clown Time“ (Pias UK/Sunday Best/Rough Trade) Von Wolfgang Marx, dpa
Er hat sich Zeit gelassen mit seinem ersten Album. 65 Jahre alt ist Kult-Regisseur David Lynch, der mit „Crazy Clown Time“ einen wüsten und bedrohlichen Horrortrip in die dunklen Kammern der Seele unternommen hat. Der schräge Henry Spencer aus „Eraserhead“, der Elefantenmensch, der perverse Frank Booth („Blue Velvet“), Sailor und Lula - sie alle scheinen auf Lynchs Debüt wieder lebendig zu werden. Eingebettet in abenteuerliche Klanglandschaften verbiegt, verformt und verfremdet Lynch seine Stimme und lädt ein in ein clowneskes Gruselkabinett. Höhepunkt ist das siebenminütige Titelstück „Crazy Clown Time“. Schaurig-schön.
JAZZ-ALBUM DES JAHRES: Brad Mehldau, Kevin Hays & Patrick Zimmerli - „Modern Music“ (NonesuchRecords) Von Esteban Engel, dpa
Ist das Jazz oder schon wieder Klassik? Bei Brad Mehldau lösen sich Grenzen auf. Mit seinem virtuosen Piano-Spiel wechselt der ungemein produktive Amerikaner von Akkord zu Akkord die Genres. In „Modern Music“ unternimmt Mehldau mit dem Pianisten Kevin Hays und dem Arrangeur Patrick Zimmerli einen Ausflug in die Musik des 20. Jahrhunderts. Die Bearbeitungen von Ornette Coleman, Steve Reich und Phillip Glas geben sie mit atemberaubender Präzision und Fantasie, aber ohne intellektuelle Allüren. Nach Keith Jarrett und Chick Corea hat mit Mehldau das Jazz-Klavier seine neue Stimme gefunden. Wunderbar.
KLASSIK-ALBUM DES JAHRES: Anna Prohaska - „Sirène“ (Deutsche Grammophon) Von Stephan Maurer, dpa
Die junge Berliner Sopranistin Anna Prohaska, 1983 geboren, wird als kommender Star gefeiert. In Mailand gab sie Anfang Dezember ihr Scala-Debüt als Zerlina im „Don Giovanni“. Für ihre erste Solo-CD „Sirène“ hat sie sich von Andersens Märchen „Die kleine Meerjungfrau“ inspirieren lassen und eine ungewöhnliche Auswahl von Liedern aufgenommen, die von Nixen und Meerjungfrauen handeln. Die Auswahl reicht von Dowland und Purcell über Schubert und Schumann bis hin zu Mahler, Debussy und Szymanowski. Einfühlsam begleitet wird sie von dem Pianisten Eric Schneider. Entstanden ist ein Album, auf dem Prohaskas schlanker Sopran mal warm-verführerisch schmeichelt, mal in kühler Brillanz erklingt. Wahrhaft eine Sirene.