Modelleisenbahn: „Kinder, kommt spielen!“

Märklin steckt tief in der Krise. Möge die Rettung gelingen. Denn Modelleisenbahnen haben das Zeug, nicht nur die Vätergeneration vom Bildschirm wegzulocken.

Wuppertal. Auf der Strecke zwischen Bonn und Altenried ist gestern Abend ein ICE entgleist. Die Ursache ist noch unbekannt. Menschen kamen nicht zu Schaden. Es waren keine an Bord. Das Unglück ereignete sich auf dem Dachboden eines Reihenhauses irgendwo in Wuppertal. Seither sucht der 46-jährige Zugführer mit zunehmender Verzweiflung nach dem Fehler.

Wenn die Bahn im Maßstab 1:87 nicht funktioniert, ist das fast so schlimm wie beim Original. Und in diesen Tagen ist die Seele des Modellbahners ohnehin geplagt. Märklin geht es schlecht, der Mercedes unter den Spielzeugherstellern hat Kratzer und Beulen.

Der Insolvenzverwalter gibt den Ton an. Niemand weiß, ob es weitergeht. Aber Modelleisenbahn ohne Märklin ist wie Fußball-Bundesliga ohne Ruhrgebiet oder Klassik ohne Mozart. Und das ausgerechnet in dem Jahr, in dem Märklin seinen 150. Geburtstag feiern wollte.

Was ist nicht alles schon gesagt worden über die Fehler, die gemacht wurden? Sicher ist: Märklin hat den Zug verpasst. Als alle Welt, vor allem die ganz junge, Playstation und Nintendo DS spielte, sah es die edle Spielzeugschmiede im schwäbischen Göppingen nicht als notwendig an, mit der Zeit zu gehen. Zielgruppenpflege und Image-Kampagnen gab es nicht.

Stattdessen setzte das Unternehmen auf Wachstum durch Zukauf. Erst Trix, dann Lehmann-Groß-Bahn (LGB) - wenn schon keine neuen Kunden, dann wenigstens die der anderen.

Die Rechnung ging nicht auf. Vor Jahren schon schnappte Märklin nach Luft. Damals warf ein Londoner Finanzinvestor seinen Rettungsring aus. Neues Management, Einsteigermodelle zu moderaten Preisen, Produktionsverlagerung ins Ausland und schließlich die Entdeckung der Familie folgten. Der Werbespruch "Papa, komm spielen" sollte an alte Zeiten anknüpfen.

Dazu ist es vielleicht schon zu spät. Der Sohn ruft den Papa nämlich nicht zur Eisenbahn. Wenn überhaupt, dann ist es umgekehrt. Die Modelleisenbahn ist das Hobby von Männern geworden, die endlich wieder alt genug sind, sich an filigranen Lokomotiven mit bunten Anhängern freuen zu dürfen. Mit sechs waren sie noch zu jung, mit 16 schon zu alt.

Ab 40 ist es nicht mehr ganz so schlimm, sich zu einer Freizeitbeschäftigung zu bekennen, die auf der Spießigkeitsskala irgendwo zwischen Kleingarten und Kegelclub angesiedelt ist. Schließlich hat fast jeder seine kleine Peinlichkeit.

Und die meisten sind voller Verständnis für gestresste Familienväter, die auch einmal ein paar hundert Minuten für sich brauchen. Wenn sie dann noch zu denen gehören, die dem Rauchen entsagten und zur Entwöhnung das Lieblingsspielzeug aus Kinderzeiten bemühen, ist jede Ehefrau besänftigt.

Obendrein beruhigt es das Gewissen ungemein, jede Lok, jeden Wagen, jedes Signal und jede Weiche in Zigarettenschachteln umzurechnen. Dabei kann freilich kein Mensch so viel rauchen wie das Hobby kostet, wenn es einen erst einmal erwischt hat. Da hatten es die Sammler, die sogenannten Pufferküsser, schon besser. In jeder Hinsicht.

Die einen haben chinesische Vasen der Ming-Dynastie in der Vitrine, die anderen horten Uhren, und die Pufferküsser kaufen eben Eisenbahnmodelle, die originaler sind als das Original und je nach Alter, produzierter Stückzahl sowie Zustand schnell 5000 und mehr Euro kosten können.

Diese Klientel hat Märklin in den vergangenen Jahren ganz ordentlich bedient. "Insider"-Modelle zu Preisen jenseits der 700 Euro in limitierter Auflage und dadurch mit Wertsteigerungsgarantie fanden reißenden Absatz.

Doch nur von spleenigen Sammlern allein kann eine Spielzeugfabrik nicht leben, auch wenn sie 128 Millionen Euro im Jahr umsetzt. Allein die Entwicklung einer Lokomotive kostet bis zu einer Million Euro.

Deshalb braucht Märklin Masse. Ohne den Durchschnittsmenschen, der bereit ist, für gute Qualität gutes Geld zu bezahlen, geht’s nicht. Davon gibt es aber immer weniger. Der Modellbahner ist im Schnitt Mitte 50, und einiges spricht dafür, dass dieses Durchschnittsalter in den nächsten Jahren deutlich steigt.

Dabei hat die Modelleisenbahn durchaus das Zeug zum Freizeitspaß auch für Kinder und Jugendliche. Denn inzwischen spielt Kollege Computer mit. Die Lokomotiven fahren digital. Der gute alte Transformator hat ausgedient. An seiner Stelle steht ein Multifunktionsgerät mit Touchscreen. Die Loks geben vorbildgerechte Geräusche von sich, alles funktioniert auf Knopfdruck und gerade noch Daumennagel große Motoren treiben an, was in der Welt der Maschinen beweglich sein muss.

Nie war 1:87 filigraner, schöner, spannender, kurzweiliger. Aber die moderne Ansprache fehlt. Es kann noch so sehr zischen, dampfen, sprechen und läuten - das Hobby wird sein spießiges Image nicht los. Pubertierende greifen zur Playstation, nicht zum Portalkran. Umso größer sind die Sorgen all jener jungen Älteren und Alten, für die Märklin das Synonym für Modelleisenbahn ist. Ohne Nachschub aus dem Schwabenland verlöre das Hobby viel von seinem Reiz.

Der ICE im Wuppertaler Reihenhaus fährt wieder. Er hat den Unfall schadlos überstanden. Ein Käbelchen lag auf den Schienen und ließ den Zug entgleisen. Solche Hindernisse sind in der H0-Welt schnell beseitigt. Für die wirklichen Probleme im richtigen Leben gibt es Insolvenzverwalter. Etwa 1300 Mitarbeiter in Göppingen und Györ sowie Hunderttausende Fans in aller Welt drücken dem von Märklin alle Daumen.