„Musstu lesen“: Ein Buch voller Kiezdeutsch

Berlin (dpa) - „Guckst du - bin isch Kino?“ Wer die Jugendsprache aus Migrantenvierteln bisher für daneben hielt, wird nun eines Besseren belehrt. Für die Sprachwissenschaftlerin Heike Wiese ist Kiezdeutsch ein kreativer Dialekt sprachbegabter Menschen - samt Grammatik.

Wann leben deutsche Sprachwissenschaftler gefährlich? Heike Wiese kann diese Frage für sich genau beantworten: Seit sie sich mit Sätzen wie „Isch aus Kreuzberg, du Muschi“ oder „Machst du rote Ampel“ beschäftigt. Mitte Februar erscheint ihr Buch „Kiezdeutsch“. Wiese analysiert darin den Dialekt, den Jugendliche im Berliner Migranten-Stadtteil Kreuzberg sprechen. Eine Gefahr für die deutsche Sprache sieht die Professorin nicht - eher eine Bereicherung. Diese Meinung teilen jedoch nicht alle. Wiese bekommt beleidigende, sogar drohende Zuschriften. So als sei das Thema Kiezdeutsch ein Freibrief dafür, mal Dampf abzulassen, sagt sie.

Es bleibt eine merkwürdige Vorstellung: Die Volksseele kocht wegen einer Studie zur Dialektgrammatik, die an der Universität Potsdam am Lehrstuhl für Deutsche Sprache der Gegenwart entstanden ist? Wiese, 45 Jahre alt, Kreuzbergerin aus Passion, nimmt das mit Humor. „Sprachwissenschaftler sind es nicht gewohnt, massiv Emotionen zu wecken“, sagt sie. Eine übliche Reaktion auf Wieses Bekenntnis „ich liebe Grammatik“ war früher oft großes Gähnen.

Im Moment wäre die Professorin vielleicht lieber Soziologin. „Es scheint bei vielen Menschen für das eigene Weltbild wichtig zu sein, dass das Deutsch in Migrantenvierteln nur gebrochenes Deutsch sein kann“, sagt sie. Das könne mit einem ganzen Bündel von Klischees zu tun haben. Vor allem geht es aber wohl um Vorurteile gegenüber Migrantenfamilien, denen per se Integrationsverweigerung und mangelnde Sprachkompetenz unterstellt werden.

Gehört Kiezdeutsch zur Sarrazin-Debatte? Schafft sich Deutschland in Vierteln wie Kreuzberg sprachlich ab? Wiese widerspricht. Sie geht eher von Unwissen bei jenen Deutschen aus, die ihr nun böse Mails schreiben. Für die Sprachwissenschaftlerin ist es ein Irrtum, dass es so etwas wie „das Deutsche“ gibt. „Das ist nur ein Oberbegriff für ganz viele Stile und Dialekte. Eine Variante ist Standarddeutsch“, erläutert sie. Unmut über Abweichung von der Norm kann jeder zu spüren bekommen, der breites Schwäbisch jenseits der Heimat spricht. „Dialekte haben keinen guten Ruf, das ist weltweit so“, sagt Wiese.

Die Front der Kiezdeutsch-Gegner hat sie noch mehr ermutigt, das Phänomen wissenschaftlich zu untersuchen - vor allem die Grammatik. Kreuzberger Schüler bekamen von Wieses Studenten Aufnahmegeräte in die Hand gedrückt und speicherten einen repräsentativen Wortschatz von Teenager-Alltagsgesprächen: „Isch kann misch gut bewegen, wa? Ischwöre. Egal, was für ein Hiphopmusik isch höre, ey, mein Körper drinne tanzt voll, lan.“ Oder: „Un wenn du mal Party bist: Oah, geile Olle. Boom, boom und du nimmst die.“

Die Professorin will mit Negativ-Klischees aufräumen. Nach ihrer Studie ist Kiezdeutsch eine Jugendsprache, die von vielen Teenagern in Kreuzberg - und nicht nur da - gesprochen wird, völlig unabhängig von sozialer oder ethnischer Herkunft. Fast alle Schüler beherrschen auch korrektes Standarddeutsch und Fremdsprachen. Kiezdeutsch habe eine andere, zentrale Funktion, betont Wiese. „Es sagt aus, dass man zu einer Gruppe gehört.“ Spreche ein Jugendlicher Kiezdeutsch mit Erwachsenen, wolle er meist provozieren. Das scheint gut zu klappen.

Kiezdeutsch ist nach Wieses Analyse weder ein willkürliches Produkt von Sprachidioten, noch dient es allein zur Verständigung aggressiver Migrantengangs mit Sätzen wie „Isch mach dich Messer“. Die Jugendsprache gehorche festen Regeln. Für die Professorin ist Kiezdeutsch ein kreativer Dialekt von Menschen, die mehrsprachig aufwachsen. „Wenn das Gehirn darauf trainiert wird, mit unterschiedlichen grammatischen Systemen umzugehen, entwickelt sich sprachlich viel mehr“, sagt Wiese. Kiezdeutsch überhole die Umgangssprache mit Turboantrieb - zum Beispiel das Haltestellen-Deutsch, das auch Herren in Anzug und Krawatte in der Berliner S-Bahn in ihr Handy brüllen: „Ich bin jetzt Zoo.“

Kiezdeutsch ist kein Berliner Phänomen. Es gebe Studien für Hamburg, Mannheim oder das Ruhrgebiet, berichtet Wiese. Ähnliche Phänomene werden in den Niederlanden, Großbritannien und den USA beobachtet. Und das Kiezdeutsch wandelt sich schnell. „Krass reden“, sagten Kreuzberger Jugendliche noch 2006 zu ihrer Sprache. Das ist heute von gestern. Neu ist dafür „wannebe“. Das stammt aus der englischen Facebook-Sprache, wird aber deutsch betont und heißt: Ich würde ja gern, aber ich habe leider keine Zeit.

Literatur:

Heike Wiese: Kiezdeutsch. Ein neuer Dialekt entsteht, Becksche Reihe, 288 Seiten, 12,95 Euro, ISBN-13: 978-3-406-63034-7