Nach Münster: Was schnelle Antworten so gefährlich macht

Amok oder Anschlag? Der „kommentierende Sofortismus“ des digitalen Zeitalters verlangt nach einer schnellen Erklärung — wo es vielmehr auf Prävention und „Bedrohungsmanagement“ ankäme.

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Münster/München. An Tagen wie dem vergangenen Samstag kann es sogar beruhigend sein, wenn Meldungen falsch sind: Um 18.47 Uhr kündigte ARD-Programmdirektor Volker Herres einen „Brennpunkt“ zu Münster für 20.15 Uhr an, gleich nach der Tagesschau. Tatsächlich fand die Sendung gar nicht statt — glücklicherweise, denn was die ARD um 20.15 Uhr hätte senden können, wäre in dem Satz zusammenzufassen gewesen: „Amok oder Anschlag? Wir wissen es nicht.“

Auch vor dem Olympia-Einkaufszentrum (OEZ) in München legten die Menschen nach dem Amoklauf im Juli 2016 Blumen nieder, um ihre Anteilnahme

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Herres löschte seine Twitter-Nachricht klammheimlich, und bis auf wenige Schnellschüsse, die üblichen Hass-Verbreiter, AfD-Politiker und ihnen nahestehende Publizisten folgten die meisten professionellen Medien und privaten Twitter- und Facebook-Nutzer schließlich der Aufforderung der Polizei Münster, keine Gerüchte und Spekulationen zu veröffentlichen.

Dass Münster ein zweites München erspart blieb, wo es am 22. Juli 2016 zu Massenpaniken mit mindestens 32 völlig unnötig verletzten Personen kam, nachdem der 18-jährige David S. in und um das Olympia-Einkaufszentrum neun Menschen tötete, fünf verletzte und sich schließlich selbst erschoss, lag nicht zuletzt an den Münsteranern selbst — die sich ruhig und besonnen in Schlangen vor der Uni-Klinik zum Blutspenden anstellten.

Nicht zuletzt diese Bilder nahmen den Versuchen, Panik zu schüren, den Wind aus den digitalen Segeln. Der Anschlag in München 2016 ist bislang das deutsche Schreckensbeispiel dafür, wie aus einer unübersichtlichen Lage, dem medialen Streuen von Gerüchten und zunächst ungeschickter Polizei-Kommunikation eine Großstadt lahmgelegt werden kann und die Polizei sich mit 67 Einsatzorten konfrontiert sieht, von denen 66 sich als Fehlalarme herausstellen.

Bewaffnete Zivilpolizisten wurden von Augenzeugen für Täter gehalten und lösten neue Fehlalarme aus. Diese Verwechselung führte dazu, dass die Polizei noch Stunden nach dem Tod von David S. nach weiteren Tätern fahndete. David S. hatte die ersten Schüsse um 17.51 Uhr abgegeben und sich um 20.30 Uhr erschossen, nachdem er von einer Funkstreife entdeckt worden war.

Das Phänomen, solche Ereignisse sofort zu deuten und zu bewerten nennt der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen „kommentierenden Sofortismus“.

Bernhard Pörksen, Medienwissenschaftler

Da Menschen mit Ungewissheit schlecht umgehen könnten, griffen sie auf das zurück, was sie ohnehin glaubten — und damit vor allem auf Vorurteile. „Wir müssen heute anerkennen, dass das Extremereignis die große Stunde der Falschmeldungen und der Gerüchte ist. Menschen sind gewissheitsbedürftig. In den sozialen Netzwerken, wo jeder frei publizieren kann, werden uns sofort jede Menge Scheingewissheiten angeboten. Wir müssen lernen, zuerst abzuwarten und uns dann möglichst mit der Version des Geschehens auseinandersetzen, die der Wahrheit und der Richtigkeit am nächsten kommt“, so Pörksen am Sonntag in einem Interview mit dem Schweizer SRF.

Der Anschlag von München 2016 zeigt exemplarisch, wie vertrackt die „Wahrheit“ selbst dann sein kann, wenn viele und schließlich irgendwann alle (erreichbaren) Fakten vorliegen: Erst sollte der Täter aufgrund seines Migrationshintergrunds Islamist sein, dann ein Rechtsextremist. 2017 wurde die Tat von LKA und Staatsanwaltschaft als unpolitischer Amoklauf eingestuft, vor wenigen Wochen schloss sich das Bundesjustizamt der Einstufung als „rechtsextremistisch motiviert“.

So unerheblich es für die Opfer und ihre Angehörigen unmittelbar nach der Tat auch ist, „ob Jens oder Ali mordet“ (Süddeutsche Zeitung), so entscheidend ist eine realistische — und vor allem politisch unbeeinflusste — Tat-Bewertung für die Prävention. Der Darmstädter Psychologe Jens Hoffmann, einer der wenigen deutschen Experten für „Bedrohungsmanagement“, hat an einer Studie über die Signale mitgearbeitet, die Amoktäter im Vorfeld ihrer Tat zeigen: In 77 Prozent aller Fälle gebe es Planungs- und Vorbereitungshandlungen, bei 90 Prozent der Täter seien Fixierungen auf Ungerechtigkeiten oder ähnliches festzustellen gewesen, in mehr als 90 Prozent der Fälle „hatten die späteren Täter ab einem bestimmten Zeitpunkt das Gefühl, dass eine Gewalttat aus ihrer Sicht die letzte Handlungsoption darstellt“.

Jens Hoffmann, Psychologe

Wie der aktuelle Fall in Münster zeige, hätten Menschen im Umfeld des Täters jeweils spezifisches Wissen über den Täter gehabt, so Hoffmann: „Es gilt viele verschiedene Informationen an der richtigen Stelle zusammen zu bringen, um eine adäquate Einschätzung vornehmen zu können. Die Implementierung von regionalen Bedrohungsmanagement-Strukturen scheint hier der richtige Weg zu sein.“

So hat der „Krisendienst Mittelfranken“ in Nürnberg mit Hoffmann „Erstbewerter“ ausgebildet, die in Dienststellen vom Bürgermeisteramt über das Jobcenter bis zur Technischen Hochschule eingesetzt sind und schnell erkennen, ob ein Problem-Kunde bloß spontan wütend ist oder eine „kalte Aggression“ aufgebaut hat, die sich in einer Amok-Tat entladen könnte. Den potenziellen Amokläufern wird psychologische Hilfe angeboten. Das führe nicht zu 100-prozentiger Sicherheit, heißt es in Nürnberg: Bei etwa zehn Prozent der Fälle blieben die erhofften positiven Folgen aus — die Betroffenen danach allerdings im Blickpunkt der Behörden.

Seit dem Amoklauf von Winnenden im März 2009 sind Schulen zu einem Bedrohungsmanagement verpflichtet. Für Behörden gilt das nicht.