Opfer-Anwalt unterstellt Tötungsabsicht
Ein Apotheker soll sich auf Kosten von Krebspatienten und Krankenkassen systematisch bereichert haben. Vor Gericht bleibt er äußerlich gelassen.
Essen. Sie kommen mit weißen Rosen, manche haben Tränen in den Augen: Als in Essen gestern der Prozess um gestreckte Krebsmedikamente beginnt, haben sich viele der Betroffenen und Angehörigen auf den Weg ins Gericht gemacht. „Wir möchten ein Zeichen setzen“, sagt eine von ihnen. „Ein Zeichen der Trauer.“ Und wohl auch der Wut, müsste man hinzufügen.
Angeklagt ist der 47- jährige Apotheker Peter S. aus Bottrop. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm vor, zwischen den Jahren 2012 und 2016 systematisch Krebsmedikamente unterdosiert, aber voll abgerechnet zu haben. In der Anklage ist von fast 62 000 Fällen die Rede. Der Schaden für die gesetzlichen Krankenkassen soll sich auf 56 Millionen Euro belaufen. Betroffen sind vermutlich mehr als 1000 Patienten aus sechs Bundesländern. Zum Prozessauftakt hat sich der Angeklagte noch nicht zu den Vorwürfen geäußert.
Annelie Scholz ist zu Prozessbeginn aus Bottrop angereist. Die 66-Jährige hat ihre Tochter an die schreckliche Krankheit verloren. „Ich habe kein Vertrauen mehr“, sagt sie unter Tränen. Und dann der Auftritt des Angeklagten: Wie er da so zielstrebig in den Saal gelaufen sei, so als wenn er einkaufen ginge. „Da habe ich gedacht: Der ist eiskalt. Als wenn ihn das alles nichts angeht. So nach dem Motto: Die Anwälte machen das schon.“
Im Prozess geht es um Medizin, Moral und Millionen. Fast ein Jahr sitzt der angeklagte Apotheker jetzt schon in Untersuchungshaft. Wie es aussieht, ist er in dieser Zeit dünner geworden. Laut Staatsanwaltschaft ist der 47-Jährige systematisch von den Vorgaben zur Herstellung individueller Krebsmedikamente abgewichen, „um sich eine erhebliche Einnahmequelle zu verschaffen“. In der Anklageschrift sind 35 Wirkstoffe aufgeführt, von denen im Anklagezeitraum maximal 70 Prozent der eigentlich benötigten Menge eingekauft worden sein soll. Außerdem geht es um Hygiene-Verstöße.
Die Anklage lautet auf Verstoß gegen das Arzneimittelgesetz, Betrug und versuchte Körperverletzung. Doch damit wollen sich die Anwälte der Betroffenen nicht zufriedengeben. Sie wollen, dass das Verfahren an das Schwurgericht abgegeben wird, dorthin, wo über Mord und Totschlag verhandelt wird. „Der Angeklagte hat es in Kauf genommen, dass eine Vielzahl von Patienten vorzeitig verstirbt“, so Anwalt Hans Reinhardt, der eine an Krebs erkrankte Frau aus Gladbeck vertritt.
Anwalt Siegmund Benecken, der ebenfalls als Nebenklagevertreter im Verfahren ist, spricht schon vor Prozessbeginn von „grenzenloser Menschenverachtung, eiskaltem Gewinnstreben und Habgier“. Nach Verlesung der Anklageschrift stellt er sofort den Antrag, das Strafverfahren von der Wirtschaftsstrafkammer an das Schwurgericht abzugeben. „Im Gegensatz zu der Auffassung der Staatsanwaltschaft ist dem Angeklagten sehr wohl ein Tötungsvorsatz nachzuweisen“, sagt Benecken. Außerdem seien die Betroffenen daran interessiert, zu erfahren, welches Schicksal der Einzelne genommen habe. „Und nicht, ob die Versicherung 40 oder 50 Millionen Euro Schaden erlitten hat.“
Benecken vertritt Cornelia Thiel, 59 Jahre, aus Marl. Was sie von dem Prozess erwartet? „Ich möchte, dass der Angeklagte nachempfinden kann, was er für ein Leid über krebskranke Menschen gebracht hat.“ Ihr eigenes Leid sei die Ungewissheit. „Ich möchte wissen, ob er mir Lebensjahre geklaut hat.“
Keiner der womöglich um die tausend Betroffenen kann offenbar sagen, ob er Medikamente mit ausreichend Wirkstoff erhalten hat. „Wenn ich darüber nachdenke, wird mir ganz anders“, sagt Heike Benedetti, 56 Jahre, aus Bottrop. Ihr Kampfesgeist ist jedoch ungebrochen. „Ich möchte leben“, sagt sie am Rande des Prozesses. „Es geht mir aber nicht aus dem Kopf, dass jemand auf Kosten von Patienten ein Luxusleben geführt hat.“
Sollte Peter S. schuldig gesprochen werden, drohen ihm bis zu zehn Jahre Haft.