„Queen of Less“: Jil Sander wird 70
Hamburg (dpa) - Wohl keine deutsche Designerin genießt so viel Respekt wie Jil Sander. Stilbildendend war ihr Purismus. Jetzt wird sie 70 Jahre alt, doch dämpft ihr dritter Abschied aus der Modewelt den Jubel.
Mehrfach von der Bühne abzutreten wie mancher Schlagersänger, das passt eigentlich nicht recht zu Jil Sander. Pathos schien der Modemacherin bisher fremd. Mit ihrem stilbildenden Purismus hat die Deutsche die Frauenkleidung um alles Überbordende erleichtert. Auch im Privaten pflegte sie die leisen Töne. Es wäre traurig, wenn die rekordverdächtige Dramatik des dreifachen Rückzugs aus der von ihr gegründeten Marke innerhalb von 13 Jahren ein geniales Lebenswerk übertönen würde. Am 27. November wird die wohl berühmteste deutsche Designerin 70 Jahre alt.
Auch wenn Heidemarie Jiline Sander im norddeutschen Wesselburen geboren wurde, kann sie als echte Hanseatin gelten. In Hamburg, wo sie bei ihrer Mutter und deren zweitem Ehemann aufwuchs, eröffnete sie im schicken Stadtteil Pöseldorf 1967 eine Boutique, Keimzelle ihres späteren Imperiums. Noch heute lebt sie in der Hansestadt. Das für sie typische Understatement, die Liebe zu Qualität und zu Begriffen wie „tadellos“ oder „solide“ scheinen jeden Entwurf der „Queen of Less“ zu prägen.
Als sie antrat, wollte sie den Frauen eine ähnlich angenehm zu tragende Garderobe verschaffen, wie sie bei den Männern schon lange üblich war. Sie schuf Damenkleidung aus Herrenstoffen, die nicht maskulin, sondern weich und in ihrer Klarheit oft bezaubernd schön wirkte. Sie selbst verkörperte mit ihren feinen und zugleich energischen Zügen das neue Frauenbild aus „zart“ und „hart“ in Vollendung. Als Jil Sander 1979 für ihr erstes Parfum mit dem eigenen Gesicht warb, wurde sie bundesweit bekannt.
Obwohl die Designerin schon in den 1980er Jahren in Deutschland große Erfolge verzeichnete, gelang ihr der internationale Durchbruch erst in den 1990er-Jahren. Die elitärsten Moderedakteurinnen der Welt huldigten ihrer Mode, die sie bei den Mailänder Schauen zeigte. 1997 brachte die Deutsche eine Herrenkollektion heraus. Dass sie sich im Zuge der Vergrößerung ihres Unternehmens Fremdkapital besorgte und 1999 die Aktienmehrheit an die Prada-Gruppe verkaufte, mag von heute aus gesehen als Sündenfall gelten. Die als „Kontrollfreak“ bekannte Jil Sander überwarf sich mit Prada-Chef Patrizio Bertelli und stieg 2000 als Chefdesignerin aus. Drei Jahre später kehrte sie zurück mit einer hochgelobten „Comeback“-Kollektion, um 2004 das Handtuch erneut zu werfen.
Diesmal dauerte die Auszeit länger. Als der neue Mehrheitseigner des Unternehmens Jil Sander, die japanische Onward-Holdings, im Februar vergangenen Jahres die Rückkehr der Modemacherin zu der von ihr gegründeten Marke verkündete, hatten nur wenige noch damit gerechnet. Ihr erneuter Abschied vor wenigen Wochen hingegen überraschte Insider nicht. Zu viele Jahre war sie dem sich immer schneller drehenden saisonalen Kleiderkarussell fern geblieben. Die Entwürfe, die sie zwischenzeitlich für die Modekette Uniqlo herausgebracht hatte, kann man nicht wirklich als Kollektionen werten.
Vielleicht hat der bevorstehende runde Geburtstag Sander dazu bewogen, Bilanz zu ziehen über ihr Modeleben und ihre physische Kraft. Nach ihrer letzten Schau Ende September in Mailand wirkte sie müde. „Ich bin ein wenig erschöpft“, sagte sie backstage. Zuvor hatte sie noch einmal einen Beweis ihres Könnens geliefert und Entwürfe gezeigt, die dank präziser Schnitttechnik beinahe zu fliegen schienen. Ihrem modischen Perfektionismus ist Jil Sander auch am - zumindest vorläufigen - Ende ihrer Laufbahn treu geblieben.