Panorama Schule? Rette sich, wer kann!
Lehrer unter Druck: Schüler und Eltern kommen immer öfter mit dem Rechtsanwalt zur Lehranstalt. Weil sie kritisieren, aber keine Kritik hinnehmen können. Eine Werbung für Autoritäten zum Schulbeginn.
Düsseldorf. Wenn die Schüler Dallan Sam (20) aus Celle und Fernando Rode (19) aus St. Augustin ein wenig Glück haben und akzeptabel vermarktet werden, dann wird ihnen ein großer Erfolg gelingen. Die beiden haben gemeinsam mit dem hannoverschen Rechtsanwalt Rolf Tarneden ein Buch geschrieben, zunächst im Eigenverlag. Und wie das so ist bei Titeln, die einzuschlagen versprechen, weil ein Bedarf existiert, ist dann schnell ein namhafter Verlag angesprungen. Dieses Mal der Ullstein-Verlag. „Was Lehrer nicht dürfen!“ heißt das Buch. Und der Untertitel suggeriert, dass es sich hier um wichtige Lektüre für das Schüler-Überleben in der Lehranstalt zum Preis von 9,99 Euro handelt: „Antworten auf die 50 wichtigsten Schülerfragen, inklusive der dazugehörigen Paragraphen.“
Vielleicht kommt das Buch für jene Schüler zu spät, die gerade ihren 50 Jahre alten Musiklehrer vor das Amtsgericht in Neuss gezerrt haben, weil der dem bildungsfreudigen Nachwuchs eine Strafarbeit aufgegeben hatte. Und sie nicht aus der Klasse lassen wollte, ehe die Schüler diese Arbeit erledigt hätten. Vor Gericht geht es um Freiheitsberaubung und Körperverletzung — der Lehrer soll angeblich auch noch einen Schüler geboxt haben, um ihn von der „Flucht“ abzuhalten. In der kommenden Woche wird der Prozess fortgesetzt. Und ganz offensichtlich hatten diese Schüler die Lektüre des gerade erwähnten Buches gar nicht nötig, um ihre Rechte ziemlich genau zu kennen.
Überhaupt hat man ja den Eindruck, dass die Kenntnis der Rechte weit größere Wichtigkeit einnimmt, als jene über die Pflichten eines Schülers. Was eine vermeintlich konservative Sicht auf die Dinge ist, dem Kern des Problems aber ziemlich nahe kommt. Der Grundtenor einer offenbar immer größer werdenden Zahl von Schülern lautet: Wer Autoritäten heute noch kritiklos anerkennt — und das ist nicht allein auf die Schule bezogen — hat schon mal grundsätzlich was falsch verstanden. Und wer sich nicht angemessen gegen ein Leben mit Zurechtweisung wehrt, der hat von den neuen Hackordnungen an Schulen nicht viel verstanden. Erst die Eltern, dann die Schüler, am Ende die Lehrer. Oder haben wir da irgendetwas falsch verstanden?
Das Klima an Schulen hat sich deutlich verändert. Denn der Konflikt mit dem Schüler ist für den Lehrer nur das eine. Mit diesem Konflikt einher geht meist auch ein Streit mit den Schüler-Eltern und viel zu oft auch eine Auseinandersetzung mit der eigenen Schulleitung, die sich unter dem Druck der Rechtssituation und vor der Konkurrenz um Schülerzahlen im regionalen Schulvergleich immer öfter auf die Seite der Eltern zu schlagen scheint. „Mit einem Bein stehst du als Lehrer inzwischen im Gefängnis, weil dir in so wahnsinnig vielen Situationen die Rückendeckung der Schulleitung und auch der Politik fehlt“, klagt eine Lehrerin aus Düsseldorf gegenüber unserer Zeitung. Diese Aussage mag man im Wust von existierenden Vorurteilen gegen Lehrer sanft belächeln. Aber eine solche Sicht auf die Dinge ernst zu nehmen, weil sie sich in Gesprächen mit Angehörigen dieses Berufsstands häufig wiederholt, wäre doch auch eine Alternative.
Der Lehrkörper hat es zunehmend mit einer Heerschar von Helikoptereltern zu tun, die mit ihren Kindern viel lieber zum Rechtsanwalt gehen, als ihnen ein geeignetes Frühstück mit auf den Schulweg zu geben. Fixpunkt am Orientierungshimmel der Elternschaft dabei immer: das eigene Kind. Man glaubt ihm (grundsätzlich), man schützt und verteidigt es. Und zieht also in den Kampf gegen eine Lehrerschaft, die — eben so am heimischen Küchentisch besprochen — selbstverständlich auch von den Schülern als übermächtiger Gegner wahrgenommen wird, den es zu besiegen gilt.
Dabei ist der Lehrer nur scheinbar übermächtig: Denn während dem Schüler dessen Eltern, allerhand Paragrafen und — mindestens moralisch — eine ganze Branche von Lehrer-Hassern zur Seite stehen (ein großer literarischer Verkaufserfolg war schon vor zehn Jahren das Buch „Das Lehrer-Hasser-Buch“ von Gerlinde Unverzagt, die unter dem Pseudonym Lotte Kühn schreibt), steht der Lehrer tatsächlich allzu oft alleine da.
Seine Paragrafen sind im NRW-Schulgesetz verankert. Dort steht, was es zur Maßregelung in Sachen Erziehung braucht. Richtiger: brauchen darf. Aufgeführt sind Ermahnungen, Gruppengespräche, Briefe an die Eltern, den Ausschluss von der laufenden Unterrichtsstunde oder eben auch Nacharbeit unter Aufsicht. Bei allen Maßnahmen, so sagt das Schulgesetz (deutlich zu schwammig und damit gefährlich für den Lehrkörper) sei „der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten“. Ob dazu das Versperren der Tür gehört, um die Nacharbeit durchzusetzen, klärt gerade das Amtsgericht in Neuss.
Doch was versprechen sich Eltern und Schüler von dieser Art der Kollaboration, die ein ganzes System untergräbt, das keinesfalls blinde Gefolgschaft, aber doch ein Mindestmaß an Akzeptanz für den bewährten Aufbau von Bildungsvermittlung abverlangt?
Ute Lorenz von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft GEW hat es gegenüber dem WDR unlängst so formuliert. „Eltern sind deutlich anspruchsvoller geworden. Aus ihrer Sicht sind heutzutage immer erst die Lehrer schuld, wenn Probleme auftreten. Die Kinder haben immer alles richtig gemacht.“ Kritikbewusstsein sei auf der Strecke geblieben. Ein Problem, das sich aus einem gesamtgesellschaftlichen Bereich heraus auf die Schule ausgewirkt habe: Jeder sei heute aufgefordert, Kritik zu üben und sein Recht einzuklagen. Kritikbewusstsein tritt dahinter zurück — es existiert noch marginal.
Die Schule als Autoritätsanstalt ist längst Geschichte. Aber ist das immer gut? Zumal ja zugleich die Erwartungshaltung aufrechterhalten bleibt, weite Teile der Erziehungsarbeit zu übernehmen, die im Elternhaus zu oft nicht mehr geleistet wird.
Der Pädagogikprofessor Roland Reichenbach an der Universität Zürich hat in einem Gespräch mit der „Zeit“ deutlich gemacht, welches grundsätzliche Problem man hierzulande mit der Führungsaufgabe eines Lehrers zu haben scheint. In Frankreich oder in den USA gehe man mit pädagogischer Autorität unbefangener um. Im angelsächsischen Raum spricht man ganz unverkrampft von „leadership“ eines Lehrers. Der Missbrauch von Autorität und Gehorsam in der deutschen Vergangenheit scheine bis heute im pädagogischen Denken und in der Unterrichtspraxis nachzuwirken. Was durchaus verständlich sei, so Reichenbach, sei zugleich hoch problematisch: „Denn praktisch jede pädagogische Tätigkeit ist mit Führungsaufgaben verbunden. Darauf verweist ja schon der Wortteil agoge in Pädagoge, was ,Führen’ von Kindern bedeutet. Während etwa der Dem-agoge — mit gutem Grund — ganz diffamiert ist, erscheinen die Päd-agogen manchen offenbar nur dann legitimiert, wenn sie ihre Führungsaufgabe verschleiern oder gar ableugnen.“
„Modernes Leadership“ ist deswegen vielleicht der „deutsche Kompromiss, der nun am Zentrum für LehrerInnenbildung (ZfL) an der Universität Köln gelehrt wird — als „Folge des Klimawandels, der sich im Schulsystem vollzieht“, wie es die Universität bewirbt. Dieser Führungsanspruch scheint in einer Zeit immer wichtiger zu werden, in der die Lehrer durch erweiterte Inklusion — vor allem auch in NRW — und die vielfach unvorbereitet nötig gewordene Integration von Flüchtlingen wahrnehmbar verstärkt unter Druck geraten sind. Zumal auch mit den damit verbundenen Lern- und Leistungsunterschieden neue Fragen beantwortet werden müssen — und es an genügend ausgebildeten Lehrkräften in NRW fehlt — warum nur?
Antworten auf diese personelle Malaise geben vielleicht die Fragen aus dem eingangs erwähnten Buch, mit dem der Verlag nun munter wirbt. Da heißt es: Darf mich mein Lehrer anschreien? Darf er mir mein Smartphone wegnehmen und dann sogar darin herumsuchen? Kriege ich Schmerzensgeld, wenn ich mich im Sportunterricht verletze? Wie viele Klassenarbeiten dürfen pro Woche überhaupt geschrieben werden?
Das alles mit „anschaulichen Beispielen und wichtigen Informationen zur Gesetzeslage“. Und: Rechtzeitig zum Start ins neue Schuljahr. Noch Fragen?