Skandal: Polizei-Held hinter Gittern
Lyons Vize-Polizeichef Michel Neyret, Frankreichs bekanntester Kommissar, soll Spitzel mit Drogen belohnt haben.
Paris. Die „Santé“ in Paris gilt als eines der berühmtesten Gefängnisse Frankreichs. Zu den Besonderheiten des trapezförmigen Gebäudes zählt der „VIP“-Trakt. Top-Terrorist Carlos saß dort ebenso ein wie der Patriarch von Olympique Marseille, Bernard Tapie, und Präsidentensohn Jean-Christophe Mitterrand. In diesen Tagen beherbergt die „Santé“ wieder einen Promi, aber es scheint wie in einer verkehrten Welt: Denn der Insasse Michel Neyret (55) ist der bekannteste Polizist der Republik.
Am 29. September klingeln die Pariser Kollegen Neyret — den „Super-Flic“ — in seinem Privathaus in Lyon aus dem Bett und halten ihm einen Haftbefehl mit einer langen Liste von Anschuldigungen vor die Augen: Drogenhandel, Unterschlagung, Korruption, Verrat von Dienstgeheimnissen und Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung. Der Hauptvorwurf: Neyret soll Spitzel aus der Unterwelt mit beschlagnahmten Drogen belohnt und möglicherweise auch Geld in die eigene Tasche gesteckt haben.
Innenminister Claude Guéant bezeichnet die Festnahme als „Erdbeben“, das die gesamte französische Polizei zu erschüttern drohe. Lyon steht unter Schock, und zahlreichen Beamten verschlägt die Nachricht die Sprache: ausgerechnet Michel Neyret, der Superbulle der Nation. Noch kurz vor der Festnahme hatte der Privatsender „M 6“ eine Sendung ausgestrahlt , in der der berühmte Vize-Polizeichef von Lyon im Mittelpunkt stand. Im November kommt gar ein neuer Film in die Kinos, in dem Michel Neyrat als Vorbild dient.
Die Pariser Fahnder glauben, in der Affäre erdrückende Beweise zu haben — zum Beispiel Mitschnitte von Telefongesprächen, in denen der „Super-Flic“ seinem Informanten aus dem Drogen-Milieu kiloweise Cannabis als Belohnung versprochen haben soll. Die Ermittler ließen auch vier Kollegen von Neyret festnehmen. Die Beschuldigten weisen die Vorwürfe scharf zurück.
Michel Neyret gilt als „Polizist der alten Schule“, als einer, der lieber im Lyoner Milieu herumschnüffelte, als im Büro Akten und Vorschriften zu wälzen. Als einer, der mitunter mehr Sympathien für den Verbrecher hegte als für das Opfer. Über seine Erfolge spricht das ganze Land: In den 1990er Jahren ließ er im Schnitt vier bis fünf Gangsterbanden pro Jahr hochgehen. Im Jahr 2003 schnappte er die gefährlichsten Verbrecher Frankreichs, die „Ausbrecher von Luynes“ um Gangsterboss Franck Perletto. Der Staatschef belohnte ihn dafür mit der „Ehrenlegion“.
Zum Bruch in dieser mustergültigen Karriere soll es nach Recherchen des Magazins „Paris Match“ 2004 gekommen sein. Michel Neyret wird vorübergehend als Polizeichef nach Nizza versetzt, lässt Ehefrau Nicole und die Tochter in Lyon zurück. Die Côte d’Azur braust er im Ferrari entlang, den ihm zwielichtige Freunde geliehen haben sollen. Immer häufiger wird er in Bars und Nachtclubs gesehen. Überschreitet der Kommissar dort die Grenze, indem er Kriminelle zu Kumpanen macht?
Je länger die Ermittlungen dauern, desto häufiger melden sich allerdings auch Kollegen zu Wort, die den VIP-Häftling aus der „Santé“ in Schutz nehmen. Einer von ihnen, Jean-Marc Bloch, der ehemalige Polizeidirektor von Versailles, weist darauf hin, dass Spitzel früher reich mit beschlagnahmter Beute belohnt worden seien.