So viel Zeit bleibt mir noch
Eine Uhr zeigt an, wann einem das letzte Stündlein geschlagen hat. Ein erschreckender Gedanke. Und eine Mahnung zum bewussten Leben.
Düsseldorf. Der Dichter Robert Gernhardt hat auf seine Art den Tod verspottet: „Durch einen Fehler im Weltenplan, lockerte sich mein Schneidezahn. Da schoss es mir eiskalt durch den Sinn: Wie, wenn ich nicht unsterblich bin?“
Er war es nicht. Gernhardt starb mit 69 Jahren. Und Sie? Wenn Sie mit Hilfe einer Glaskugel in die Zukunft schauen könnten, würden Sie einen Blick auf Ihren Grabstein werfen wollen? Mal kurz nachsehen, welches Todesdatum dort steht? Oder: Wie wäre es, wenn in Ihrem Wohnzimmerregal eine Sanduhr stünde, an der Sie die Ihnen noch verbleibende Lebenszeit ablesen könnten — auf die Gefahr hin, dass sich nur noch ein paar Sandkörner im oberen Glas befinden?
Eine exotische Vorstellung? Alles andere als das. Längst gibt es im Internet Lebenserwartungsrechner, bei denen Sie Alter, Gesundheitszustand, Gewicht, erbliche Vorbelastungen, Verhalten (Raucher oder Nichtraucher) einspeisen und dann als Ergebnis Ihren Todestag ausgeworfen bekommen.
Alljährlich können Sie dann in den Kalender nicht nur den eigenen und die Geburtstage von Freunden und Verwandten übertragen, sondern auch das Datum Ihres Todestages — in wie vielen Jahren das auch immer sein mag. Denn diesen Todestag wird es geben. Der 2. Mai vielleicht, der 24. Oktober, der 10. Dezember . . .
In den USA wird das Thema jetzt in aller Konsequenz zu Ende gedacht. Die Firma Tikker hat auf dem Wege des Crowd Funding nach eigenen Angaben mehr als 7000 Vorbestellungen eingesammelt: Die Kunden finanzieren ihre Geschäftsidee vor, bevor sie verwirklicht wird. Die sogenannte „Happiness Watch“ geht in Produktion.
Diese „Glücks“-Armbanduhr (Preis: 79 Dollar) kann man freilich auch ganz anders nennen — Todesuhr etwa. Zeigt sie doch dem Träger, der sie zuvor mit Hilfe der Daten aus dem Lebenserwartungsrechner individuell programmiert hat: So viele Jahre, Monate, Tage, Stunden, Minuten und Sekunden habe er noch zu leben. Gnadenlos. Noch 54 Jahre, neun Monate, 22 Tage, 19 Stunden, 55 Minuten, drei Sekunden. Zum Beispiel. Bei anderen ist es deutlich weniger.
Auch wenn natürlich niemand sagen kann, dass es exakt dieses Datum sein wird, weil es schließlich Unwägbarkeiten wie überraschende Krankheiten oder Unfälle gibt — schon die in Zahlen ausgedrückte Perspektive lässt den Träger der Uhr ins Grübeln verfallen. Oder erschrecken. Schon wieder eine langweilige Fernsehshow gesehen — tick. Schon wieder zwei Stunden planlos im Internet gesurft — tack. Und wieder dem Tod ein Stück näher.
Fernsehen, Internet — lange bevor diese Zeitfresser erfunden wurden, waren die Herausforderungen dennoch die gleichen. Aus 2000 Jahren Entfernung tönt die Mahnung des römischen Philosophen Seneca bis in unsere Tage: „Manche Stunden werden uns entrissen, manche heimlich entzogen, manche entschwinden uns. Am schimpflichsten ist freilich der Verlust aus Nachlässigkeit.“
Sich die Konsequenzen des Zeitverstreichens bewusst zu machen, das hat immer auch etwas mit dem Nachdenken über den Tod zu tun. Die in konkreten Zahlen auf dem Zifferblatt daherkommende Mahnung dürfte vielen Menschen dabei unerträglich erscheinen. Sie wollen es gar nicht wissen, schieben die dunklen Gedanken beiseite.
Fredrik Colting, der Gründer von Tikker, hat freilich eine ganz andere Perspektive. Seine Idee der „Happiness Watch“: „Wir werden uns unseres eigenen Endes bewusst, und das lässt uns das Leben mehr schätzen. Es gibt Menschen, die haben schwere Krankheiten überlebt und haben danach einen neuen Blick aufs Leben. Sie lassen sich nicht mehr von Kleinkram beeindrucken, sondern sind einfach glücklich zu leben. Sich das bewusst zu machen, dabei soll unsere Uhr helfen.“
Der dahinter stehende Gedanke ist das schon den alten Römern vertraute Carpe Diem — nutze den Tag. Warte nie, bis du mal Zeit hast. Oder, wie der dänische Literat Piet Hein suggestiv fragte: Wer nie jetzt lebt, lebt nie — was machen Sie?
Der Tod ist nun mal nicht verhandelbar, Leben hingegen ist das, was man daraus macht. Weil jeder Tag mehr in unserem Leben auch ein Tag weniger auf dieser Welt ist, sind wir alle gut beraten, unsere Tage zu nutzen.
Ob ohne oder mit Uhr, die einen immer wieder darauf stößt. Daniel Kehlmann hat den Gedanken in seinem Roman „F“ ganz wunderbar formuliert: Ein kurzer Tag zwischen zwei endlos langen Nächten sei das Leben. Umso mehr habe man sich der hellen Minuten zu erfreuen und zu tanzen, so lange die Sonne noch scheine.