Spurensuche zu Hitlers Propagandaschrift „Mein Kampf“

Weimar (dpa) - „Das ist kein Buch, das verführt, sondern eine Anleitung für Verführer. Es geht um Methoden“, erzählt die Juristin Sybilla Flügge in Weimar.

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Gerade 14 Jahre alt, habe sie Mitte der 1960er Jahre aus Hitlers „Mein Kampf“ dessen wichtigsten Visionen herausgefiltert, um sie in Geschenkpapier den Eltern unter den Weihnachtsbaum zu legen. Sie habe ihnen beweisen wollen, dass Hitler bereits in den 1920er Jahren Antisemit war und seinen Wahn „vom Volk ohne Raum“ und vom Recht des Stärkeren beschrieben hat.

Etwa 50 Jahre später stehen neben Flügge fünf andere Akteure am Donnerstagabend in der Uraufführung des Kunstfestes Weimar auf der Bühne. Sie hinterfragen die Bedeutung der Hetzschrift 70 Jahre nach dem Tod des Diktators für die Gegenwart. Ein Grund: Ende 2015 laufen die vom Freistaat Bayern gehaltenen Urheberrechte aus, ab Januar 2016 kann es auch in Deutschland wieder gedruckt werden.

Die Berliner Theatergruppe Rimini Protokoll, die als ein Wegbereiter eines neuen Dokumentarismus im Theater gilt, hat für das Auftragswerk „Adolf Hitler: Mein Kampf Band 1 & 2“ eineinhalb Jahre aufwendig recherchiert. Entgegen mancher Befürchtung sind es zwei kurzweilige, spannende und teils heitere Stunden im alten E-Werk zu einem bitterernsten Thema.

Mit Flügge begeben sich ein israelischer Jurist, ein deutsch-türkischer Rapper, eine Juristin, ein Buchrestaurator und ein Blinder auf historische Recherche und ganz persönliche Spurensuche zu Hitlers Propagandaschrift. Auch Tabus in der Familiengeschichte werden nicht verschwiegen.

Wie heute umgehen mit dem Buch, das 12,5 Millionen Mal bis 1944 in Deutschland gedruckt wurde und noch in vielen Haushalten, in Antiquariaten und im Internet zu finden ist? Bis heute wird behauptet, dass es kaum jemand gelesen habe. Wer aber würde es heute kaufen, wer lesen? Ist es Nährboden für das Gedankengut von Rechtsradikalen oder von Menschen, die sich derzeit vehement gegen Flüchtlinge und Zuwanderung wenden? Äußerst brisante Fragen also, mit dem sich die Sechs auseinandersetzen, um den Mythos der Verführung in Hitlers Werk und ein Tabu des Schweigens zu brechen, wie Festspielleiter Christian Holtzhauer sagt. Weimar war eine der Lieblingstädte Hitlers.

Da erzählt der Jurist Alon Kraus, dessen Eltern und Großeltern aus Wien vor den Nazis flohen, dass ein Großvater im Auschwitz-Prozess 1961 mit Ankläger war und wie er mit Hitlers „Mein Kampf“ in Tel Aviv einst Deutsch lernen wollte. Sibylla Flügge berichtet von ihrer Schwester, die in den RAF-Untergrund ging. Der deutsch-türkische Rapper Volkan Türeli besingt den alltäglichen Rassismus in Deutschland und erzählt von zig Auflagen von Hitlers „Mein Kampf“ in der Türkei, darunter auch ein Comic. Auch in vielen andern Ländern ist der Druck erlaubt und steht teils auf den Bestseller-Listen.

In Deutschland klärt die Juristin Anna Gilsbach die Premierenbesucher auf, wird ein Nachdruck derzeit noch als Volksverhetzung geahndet. Der antiquarische Besitz ist aber erlaubt. Das Münchner Institut für Zeitgeschichte plant für 2016 eine wissenschaftlich kommentierte Ausgabe. Buchrestaurator Matthias Hageböck von der Herzogin Anna Amalia Bibliothek demonstriert, was mit Büchern alles angestellt werden kann. Der blinde Christian Spremberg avanciert zum „Seher“, liest und kommentiert Hitlers Texte.

„Adolf Hitler: Mein Kampf Band 1 & 2“ wird von der Kulturstiftung des Bundes mit 94 000 Euro unterstützt. Es ist eine Koproduktion mit mehreren Theatern in Deutschland, der Schweiz und Österreich. Im Herbst geht es dorthin auf Tournee, im Frühjahr ist ein Gastspiel in Athen geplant.