Struths „Liebe zum Sehen“: Expeditionen in die Gegenwart
Becher-Schüler Thomas Struth glänzt im Haus der Kunst in München mit seiner Schau und einem herausragenden Katalog.
München. Thomas Struth ist der menschlichste unter den berühmten Becher-Schülern. Er besuchte noch keine Akademie, als er die Straßen seiner Umgebung in Düsseldorf-Unterbilk zentralperspektivisch aufnahm. Im Nachhinein wirken sie wie räumliche Analysen des Nachkriegs-Deutschlands. Mit Hingabe schaute er durch das Kameraauge auf die holprigen Straßen und ärmlichen Häuser. Später, als er mit der Großbildkamera die Welt eroberte, öffnete sich sein Blick durch Bäume, Äste, Blätter, Wucherungen hindurch auf eine lichte Helle zwischen dem Astwerk. Wieder anders seine Familienporträts, die Geschichte der kleinsten Zelle der Menschheit. Im Haus der Kunst in München gibt er die Totale seines Schaffens: sympathisch, weltoffen, klug. Die „Liebe zum Sehen“ sei es, sagt er, die die Kommilitonen unter dem Signum der Bechers vereinte.
Lothar Schirmer, Verleger und Sammler der ersten Stunde, sowie Thomas Weski als Kurator und großer Kenner der Fotoszene, haben den Katalog und die Ausstellung organisiert. Sie verstehen es, seine Gedanken, Entwürfe und künstlerischen Übersetzungen zu vereinen. Sie sind ihm auf der Spur, wenn er Fotos aus dem Spiegel zerschneidet und sammelt, wenn er im Orientierungs-Bereich als junger Student den Standort der aufgenommenen Personen mit dem Buntstift skiziert. Kaum erhält er 1977 das begehrte PS1-Stipendium nach New York, da ist er auch schon auf der Suche nach der Atmosphäre der Stadt.
Die Kunsthalle Bern fasst seine Straßenbilder als „Unbewusste Orte“ zusammen, vielleicht der beste Titel, den man seinen Arbeiten geben kann. Die Beziehungen zwischen den Orten und den Menschen sind wichtig für ihn. Anfang der 1980er Jahre arbeitet er mit dem Düsseldorfer Psychoanalytiker Ingo Hartmann, der Familienbilder für die Therapie seiner Patienten einsetzt. Struth wird Anfang der 1990er Jahre seine Fotos zum Sinnbild von Heilungsprozessen nehmen, als er in einem Schweizer Krankenhaus 37 Räume mit seinen Fotos gestaltet. Vom Rittersporn bis zur Königskerze fotografiert er die Schönheit und Verletzlichkeit der Blüte.
Die Fotografie ermöglicht ihm den Dialog zwischen Bild und Betrachter. 2004 darf er in der Galleria dell’Accademia in Florenz den 500. Geburtstag des „David“ von Michelangelo feiern. Er richtet die Kamera nicht auf die Kunst, sondern auf die Fans. „Audiences“ nennt er die Serie der Museumsgäste und gibt nebenbei zugleich eine Geschichte der Körpersprache. Es entstehen Spiegelbilder der Gesellschaft mit der Kunst, die er raffinierterweise ausspart.
Erstmals öffnet Struth auch sein Archiv, zeigt seine frühen Ölkreide-Bilder, mit denen er sich an der Düsseldorfer Kunstakademie bewirbt, bei Gerhard Richter startet und noch im selben Jahr 1977 zu Bernd Becher wechselt.
Es wäre jedoch falsch, Struth als begnadeten Lichtbildner zu betrachten, dem die guten Bilder in den Schoß fallen. Jana Maria Hartmann reist mit Struth 2005 nach Peru. Sie beschreibt, wie sie im klapprigen Wagen über staubige Straßen durch den abgeholzten Regenwald zum Rio Madre de Dios kommen, von dort im Boot stromauf zu Blockhütten gelangen und mit der kiloschweren Plattenkamera und der Planfilmkassette losziehen. Wie Thomas Struth schließlich nach unzähligen Strapazen und vergeblichen Versuchen mit Licht und Wolken ein einziges Bild erzeugt. Ein Bild vom Paradies.