Reportage Unterwegs mit Lkw-Fahrer Mario: So sehen Berufs-Trucker die Straße

Für viele sind Lkw ein Ärgernis, aber ohne sie wären die Supermärkte leer. Unsere Autorin war einen Tag unterwegs im 40-Tonner.

Foto: Judith Michaelis

Düsseldorf. Der Fahrradfahrer schießt auf dem Radweg hinter der Häuserecke hervor und direkt vor Mario Weßels Sattelzug auf die Straße. Der 47-Jährige tritt voll auf die Bremse, im Fahrerhaus ruckelt es gewaltig, aber der 40-Tonner steht. Pfeifend atmet Weßel aus, kontrolliert alle Spiegel und fährt wieder an. Eine kurze Schrecksekunde, wie er sie vielfach am Tag erlebt. „Boah, da bin ich schon froh, dass ich gute Bremsen habe“, sagt er und biegt lächelnd ab Richtung Autobahn.

Foto: Juliane Kinast

Gerangel um Stellflächen, Diskussionen um eine Zunahme tödlicher Unfälle insbesondere am Stauende, Tauziehen in Brüssel um den Einbau von Abbiegeassistenten — es fährt eine Menge Politik mit, wenn Mario Weßel am Steuer seines Lkw sitzt. Zu spüren ist das freilich nicht, als er an diesem Morgen kurz nach 7 Uhr auf dem Hof der Spedition ABC Logistik im Düsseldorfer Hafen die drei Metallstufen in die Fahrerkabine seines 16 Meter langen MAN-Sattelzugs steigt, seine Borussia-Dortmund-Tasche nebst Wurstbrotdose an die Seite seines Sitzes stellt und seine Fahrerkarte in den Fahrtenschreiber schiebt. Seine erste Etappe auf der heutigen Tour führt wenige Kilometer über den Rhein. Ein Klacks für den Trucker. Er ist „seit 29 Jahren aufm Bock“, sagt Weßel. „20 Jahre hab’ ich international gefahren.“ Frankreich, Spanien, Portugal, Dänemark. Manchmal acht Wochen auf Achse — kurz heim zum Klamottenwechsel und wieder los. „Aber mit Familie — das funktioniert nicht“, sagt er. Vier Kinder zwischen 14 und 27 Jahren hat er, zwei Ehen überlebten seinen Job nicht.

Foto: Juliane Kinast

Mario Weßel

Foto: Juliane Kinast

Jetzt fährt er nur noch in NRW, ist abends und am Wochenende zu Hause. „Ich habe ’ne gute Tour“, sagt der 47-Jährige. Meist fährt er Richtung Mönchengladbach — so habe er schon mal nichts mit der A46 „da oben“ Richtung Wuppertal zu tun: „Das ist Katastrophe!“ Er kommt meist gut durch. Zumindest jetzt in der Ferienzeit. „Da ist es relativ ruhig.“

Mario Weßel steuert den 40-Tonner vom Hof und in einem weiten Bogen auf die Fahrbahn. An der nächsten Ecke geht es nach rechts. Als er blinkt, verschwindet die Straßenkarte plötzlich von seinem Navi-Display, ein Kamerabild erscheint. Es ist der Abbiegeassistent unter dem Außenspiegel, der Weßel anzeigt, was er sonst im toten Winkel nicht sehen könnte. Das Thema ist ein Dauerbrenner. Erst vorvergangene Woche starb eine Radlerin in Recklinghausen nach dem Zusammenstoß mit einem nach rechts abbiegenden Lkw. Die EU will die Kamera ab 2022 zur Pflicht machen. „Aber das rettet einen auch nicht“, meint Mario Weßel und schaut noch einmal in alle Spiegel. Letztlich helfe nur das ständige Bewusstsein, dass man da „’ne Waffe“ unter sich hat.

Weßel hat das als ganz junger Fahrer auf die harte Tour gelernt. „Da habe ich einen Pkw von der Straße geschossen.“ Übermüdet war er morgens hinters Steuer geklettert. Im Dunkeln gingen plötzlich alle Lichter auf seiner Anzeige an, dann knallte es, flogen Scherben. Das Auto — zum Glück ein geparktes — lag mit eingedrücktem Dach 20 Meter weiter in einem Vorgarten. Und Weßel war nur etwa 40 km/h gefahren. „Wäre einer da drin gewesen, wäre er tot gewesen.“ Seither fährt er unfallfrei.

Und ärgert sich oft über seine Kollegen, die dem miesen Image des Berufskraftfahrers Auftrieb geben. Aus seiner Perspektive sieht er, wie sie während der Fahrt die Fingernägel schneiden, Filme gucken, mit Trommelstöcken auf dem Lenkrad üben. Er schüttelt den Kopf. „Wenn ich mir nur überlege, ich fahre auf ein Stauende zu und sehe im letzten Moment noch zwei Kinder, die mir durch die Heckscheibe zuwinken ...“ Er bricht ab.

Dabei, glaubt er, wären die Unfallzahlen leicht zu drücken. Schließlich scannt sein moderner Lkw ständig die Straße vor ihm und erkennt selbst, wenn ein Hindernis auftaucht. Weßel hat einmal erlebt, dass sein Fahrzeug selbstständig eine Vollbremsung eingeleitet hat — ein Autofahrer hatte ihn geschnitten. „Da hab’ ich hier drin bald das Rad geschlagen! Das war nicht schön.“ Aber: Die Systeme zu nutzen, ist eben keine Pflicht; der Fahrer kann sie einfach per Knopfdruck ausschalten. „Da ist der Gesetzgeber in der Pflicht“, findet der 47-Jährige.

Im Düsseldorfer Hafen hat er zehn Gitterboxen mit Kugellagern abgeladen — insgesamt 7,7 Tonnen hat er zum Auftakt in den Arbeitstag mit einem Hubwagen durch den Laderaum und auf den wartenden Gabelstapler gezerrt. Klimaanlage und ein kleines Handtuch haben den Schweiß endlich besiegt, also Mario Weßel in das Willicher Industriegebiet Münchheide rollt. „So, wo muss ich denn hier rein? Vorwärts oder rückwärts?“ Er setzt zurück vor die Rampe des Lebensmittelzulieferers — durch das Fenster weht ein beißender Gewürzgeruch herein. Er steigt mit seinen Frachtpapieren aus — und zwei Minuten später wieder ein. „Schon hat man eine halbe Stunde Pause“, sagt er und verdreht die Augen. Die Firma macht Frühstückspause, in den nächsten 30 Minuten lädt hier niemand ab. „Und ich steh’ dumm rum.“

Mario Weßel

Viereinhalb Stunden darf Weßel hinter dem Steuer sitzen. Dann muss er eine Dreiviertelstunde pausieren und darf noch einmal viereinhalb Stunden fahren. Die Zwangspause erspart ihm die Suche nach einem Halteplatz: „Das Parkplatzproblem kennt jeder“, sagt er. „Ich muss auch mal von der Autobahn runter und im Industriegebiet halten.“ Denn die Polizei ist streng, wenn es um Ruhezeiten geht. Ein einziges Mal musste Mario Weßel Strafe zahlen, weil er eine Viertelstunde zu lang fuhr: 160 Euro.

Das Dummrumstehen entpuppt sich als noch dümmer, als die Lagerarbeiter vom Frühstück kommen: Irgendetwas ist beim morgendlichen Beladen in der Spedition schief gelaufen, die zehn Paletten für die Lebensmittelfirma sind gar nicht an Bord. Mario Weßel schnauft. Er muss morgen wiederkommen. Weiter geht es zu zu einer großen Spedition, für die er zwei Paletten mit einem Vitamin-Mix geladen hat. Dort schickt ihn ein Mitarbeiter erst in die Disposition, wo er lernt, er solle sich einfach an den Gabelstaplerfahrer wenden; der manövriert ihn zu Halle 12, Tor 11 — wo er von einem anderen Staplerfahrer hört, er müsse doch zu Halle 9, Tor 13, allerdings stehe da noch ein anderer Lkw für 15 Minuten. Während Weßel wartet, schnauzt ihn der dritte Gabelstaplerfahrer an, weil der Sattelzug ihm offensichtlich im Weg ist. Der Düsseldorfer Fahrer lacht nur kurz auf: „Hach, ich liebe meinen Job ...’“

Das tut Mario Weßel tatsächlich. Er könnte nicht im Büro arbeiten, sagt er. Oder unter Beobachtung. So ist er selbstständig. „Und ich sehe jeden Tag etwas Anderes.“ Heute fährt er noch nach Nettetal, dann Viersen. Um 16.30 Uhr wird er durch das Tor seiner Düsseldorfer Spedition rollen, Feierabend macht er nach zehn Stunden. Wie jeden Tag. „Ich habe schon mehr gearbeitet für weniger Geld“, sagt er. Genauer: 6 bis 21 Uhr für 2100 Euro brutto. Bei seinem jetzigen Job hingegen stimmten die Bedingungen. Nur auf der Straße, da mache es nicht mehr so viel Spaß wie früher: „Heute ist da nur noch Kampf“, bedauert er. Manchmal wünscht er sich mehr Verständnis von den Autofahrern. „Sie sollten sich bewusst werden, dass wir nicht aus Jux und Dollerei unterwegs sind“, sagt er. „Ich habe mal auf einem Lastwagen einen Spruch gelesen: ,Ihr seid genervt von uns Lkw? Dann geht einfach nicht mehr einkaufen’.“ Und genau so sehe es aus.