Wagner in Salzburg: Meistersinger als Märchentraum
Salzburg (dpa) - Es ist wie ein Blick in die Bilderbuchsammlung des kleinen Richard Wagner: Schmucke Damen und Herren in biedermeierlichen Kostümen, Schaukelpferdchen und Trommel, Grimms Märchenfiguren und der Struwwelpeter.
Zwischen den Buchseiten finden sich gepresste Wiesenblumen. Der norwegische Regisseur Stefan Herheim zeigt bei den Salzburger Festspielen Wagners fünfstündiges Werk stimmig als Märchenstunde im Biedermeier. Statt aufs Große und Pompöse lenkt er den Blick aufs Kleine und nach Innen. Die Meistersinger, ein Kammerspiel.
Bereits in Bayreuth in den vergangenen Jahren für seinen „Parsifal“ gefeiert, kam Herheim mit seinen sehr klassisch-lieblichen „Meistersingern“ am Freitag auch in Salzburg an: Nach der Premiere im Großen Festspielhaus übertönten die Bravo-Rufe und der langer Applaus die vereinzelte Buhs.
Auch musikalisch in weiten Teilen überzeugend, gab es doch einige Schwächen: Roberto Sacca nimmt man als Walther von Stolzing seine überragende Sangeskunst, mit der er schließlich über seinen Nebenbuhler Beckmesser (Markus Werba) triumphiert, nicht ganz ab. Auch Anna Gabler bleibt als Eva eher blass. Überzeugend - und deutlich bejubelt - sind die Wiener Philharmoniker unter Daniele Gatti und die Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor. Star des Abends ist ein darstellerisch wie stimmlich starker Michael Volle als Hans Sachs.
Der von den Nazis bei den Reichsparteitagen gespielten Oper mit Deutschtümelei und zahlreichen „Heil“-Rufen haftet oft der Ruf des Nationalistisch-Reaktionären an. Doch Herheim sieht das anders: „Dieses Werk kann man tatsächlich nur verstehen, wenn man in das 19. Jahrhundert eintaucht“, sagt er in einem Interview mit den „Salzburger Nachrichten“. Einer Zeit, in der eine von Krieg gezeichnete Gesellschaft zwischen Restauration und Revolution nach ihrer Identität sucht. Deshalb versetzt er die Handlung um den Wettstreit der „Meistersinger von Nürnberg“, dessen Gewinner die schöne, junge und reiche Eva erhält, vom Spätmittelalter in die Zeit kurz vor ihrer Entstehung, das beginnende 19. Jahrhundert.
Der Norweger hält seine pittoreske Biedermeier-Bildsprache überzeugend bis ins Detail durch, ohne wirklich kitschig zu wirken. Zu Beginn schickt er Hans Sachs mit Zipfelmütze und im Schlafrock als „Deutschen Michel“ auf die Bühne, der die gesamte Handlung wohl nur träumt.
Die Schusterstube des angesehenen Meistersingers und Witwers wird nie verlassen, für einzelne Szenen hat Bühnenbildnerin Heike Scheele Ausschnitte des Zimmers riesenhaft nachgebaut. Die Darsteller werden dabei zu Däumlingen: So spielt die Kirchenszene auf dem Sekretär von Hans Sachs, dessen Rückwand an eine Orgel erinnert. Oder Beckmesser wirbt vor den zu Wohnhäusern gewachsenen Bücherregalen um seine vermeintliche Eva, die sich im Fenster eines riesigen Kartenschranks räkelt. Dazwischen mischt sich immer wieder eine Horde wildgewordener Märchenfiguren wie Schneewittchen und die sieben Zwerge, Frau Holle oder der Froschkönig - die auch in die Prügelszene einiges an Aktion bringt.
Weniger die Liebesgeschichte, als vielmehr die Figur von Hans Sachs - die auch für Richard Wagner stehen könnte - steht für Herheim im Mittelpunkt der Oper. Ihn zeichnet er als an den Faust erinnernden alternden Universalgelehrten: Vor Schreibtisch, Landkarten, gefüllten Bücherregalen mit Totenkopf, Gehirn in Spiritus oder Teleskop verschwinden die Schusterutensilien fast im Hintergrund. Anders als Faust verzichtet er großmütig auf persönliches Glück und sein Evchen, die er besser bei Stolzing aufgehoben sieht. Dramatisch zerschlägt er ihr Porträt, regelt die Dinge und enthüllt neben einer Wagner-Büste sein eigenes Steinantlitz. Den „Heil Sachs“-Chor im Schlussgesang wehrt er ab, unter einer ihm aufgedrückten Krone bricht er zusammen. Dann ist er wieder im Schlafrock - die Meistersinger, nur ein Märchentraum?