Wenn Chopin krank macht - Hilfe für leidende Musiker
Die Stimme versagt, der Finger verkrampft? Eine Ambulanz in Düsseldorf hilft leidenden Musikern.
Düsseldorf. Musiker lieben ihre Geigen, Posaunen, Flöten und Flügel sehr — so sehr, dass sie in Kauf nehmen, dass die Instrumente sie krank machen können. Wer professionell in einem Orchester spielen will, muss oft von Kindheit an bis über die Schmerzgrenze hinaus üben, jeden Tag, stundenlang. Die körperlichen Belastungen sind vergleichbar mit denen von Hochleistungssportlern — und das über Jahrzehnte.
Auch engagierte Laienmusiker bekommen mitunter Probleme, so wie Heide Hess. Sie ist 72 und spielt Geige seit ihrem elften Lebensjahr. Schon als Jugendliche übte sie drei, vier Stunden täglich. Wie die meisten Violinisten hat auch sie das berühmte Geigerekzem, diesen unansehnlichen Fleck am Hals, dort, wo sie den Kinnhalter ansetzt. Darunter hatte sich eine Zyste gebildet.
Das ist ein Fall für Wolfram Goertz, Mediziner und Mitbegründer der interdisziplinären Musikerambulanz im Uni-Klinikum Düsseldorf: „Eine Geigerin mit so einem auffälligen Problem hat man nicht jeden Tag.“
Spezielle Ambulanzen für Musiker gibt es inzwischen an einigen Orten, meist an Musikhochschulen. Aber die Düsseldorfer Praxis ist eine Besonderheit. Sie befindet sich direkt auf dem Gelände des Uniklinikums, ist eng vernetzt mit Neurologen, Orthopäden, Handchirurgen, Hautärzten, Psychologen, Physiotherapeuten und Fachärzten für Stimm- und Sprachstörungen. Selbst ein Geigenbauer steht dem Team zur Seite.
Bei Heide Hess’ Instrument hatte sich durch jahrzehntelange Reibung und Schweißaustritt die Schutzlasur des hölzernen Kinnhalters abgelöst. Die Haut reagierte allergisch. Hess hatte Schmerzen, klebte Pflaster auf die wunde Stelle, der Kleber drang in die Wunde ein, die Schmerzen wurden noch schlimmer.
Dass der Kinnhalter die Ursache für ihr Leiden war, darauf kam sie nicht. „Den hatte ich doch schon 30 Jahre benutzt.“ Hess verkrampfte sich beim Spielen, nahm eine schiefe Haltung an.
In der Musikerambulanz wurde sie untersucht und gleich weiter in die Hautklinik um die Ecke geschickt. Dort wurde sie operiert, und schon kurze Zeit später fing sie wieder an zu spielen. „Ich bin wie befreit“, sagt Hess.
Wie viele Profis mit den typischen Musiker-Krankheiten zu kämpfen haben, ist schwer zu schätzen. Experten vermuten, dass rund 70 Prozent im Laufe ihres Lebens gesundheitliche Probleme bekommen. Dazu gehören Überbelastungen der Ellbogen, Hände oder Finger, verkrampfte Lippen und erhöhter Augeninnendruck etwa bei Bläsern, Hörschäden, Taubheitsgefühle in den Fingern oder plötzlicher Stimmverlust. Hinzu kommt die Auftrittsangst, die tiefe Furcht vor dem Versagen auf der Bühne, die sich bis zur Depression auswachsen kann.
Im zehnten Stock der MNR-Klinik, hinter zweifachen Eisentüren, liegt das schalldichte Büro der Ambulanz. Früher war das der Aufenthaltsraum für die Aufzugmechaniker. Ein schwarzes Klavier steht neben der Patientenliege.
Die Ärzte in der Ambulanz spielen selbst Instrumente, sie wissen, was Hanon, ein Barré-Griff, ein Saltando und ein Triller sind. Sie kennen den schmerzhaften Weg zum Profimusiker. Und sie nehmen es ernst, wenn zum Beispiel der fünfte Finger der rechten Hand nicht mehr „läuft“.
Mehr als 400 Patienten hat die Musikerambulanz seit dem Start 2012 untersucht. Koordinator Goertz bemängelt inzwischen aus Erfahrung: Viel zu eng sei es in den Orchestergräben. Und: „Die Dirigenten proben zu laut.“ Sie tendierten auch dazu, Stücke zu groß zu besetzen. „Sie wollen zwölf erste Geigen, wo Mozart nur sechs oder acht gebraucht hat.“
Ein 35-jähriger Organist kommt in die Sprechstunde. Schon im Studium habe er bemerkt, dass er in der rechten Hand eine Schwäche habe, zu wenig Kraft vom Mittelfinger bis zum kleinen Finger, besonders bei Barockmusik „perlt es nicht so, wie es soll“. Könnte der Organist an der gefürchteten fokalen Dystonie, dem Musikerkrampf, leiden?
Berüchtigt sind die Trillerketten bei Chopin. Das exzessive Üben hat selbst den amerikanischen Pianisten Leon Fleisher krank gemacht. Eine Dystonie bereitete auch der Musiker-Karriere von Robert Schumann ein Ende. Heutzutage spritzen Ärzte im Extremfall das Nervengift Botox in die verkrampften Muskeln.
Auch nach der Behandlung betreut die Musikerambulanz die Patienten weiter. Schwieriger als Ekzeme zu heilen sei es, ihnen starre Übungsmuster abzugewöhnen. Goertz, der selbst Klavier, Orgel, Saxophon, Gitarre und etwa Geige spielt, sagt: „Man kann Stücke sogar durch Lesen lernen.“