Bizarre Welt: „Rosetta“ liefert Details über Komet „Tschuri“
Göttingen/Washington (dpa) - Schroffe Klippen, Staubfontänen und tiefe Löcher mit „Gänsehaut“: Der Komet „Tschuri“ hat sich auf den detailreichen Bildern der europäischen Raumsonde „Rosetta“ als vielfältige, bizarre Welt entpuppt.
In einer Artikelserie im US-Fachjournal „Science“ fassen internationale Forscherteams die Beobachtungen der ersten Monate zusammen. „Wir beobachten einen erwachenden Kometen“, erläutert Holger Sierks vom Göttinger Max-Planck-Institut für Sonnensystemforschung, einer der leitenden Wissenschaftler der Auswertung.
„Zum ersten Mal können wir einen Kometen bei seinem Vorbeiflug an der Sonne mit einer Raumsonde begleiten“, betont Sierks. Die Instrumente von „Rosetta“, darunter die „Osiris“-Kamera, liefern den Forschern dabei den bislang detailliertesten Blick auf einen Schweifstern. „Damit können wir versuchen, die Physik des Kometen und die Physik seiner Aktivität zu verstehen. Das ist aus meiner Sicht ein Durchbruch“, sagt der Leiter des „Osiris“-Teams.
Das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) hofft ab kommenden Mai auch auf neuen Kontakt zum Mini-Labor „Philae“ auf dem Kometen „Tschuri“. Im Moment liege das Gerät nach seiner spektakulären Landung Mitte November weiter im Schatten. „Wir wissen zur Zeit nicht genau, wo „Philae“ ist“, sagte DLR-Chef Johann-Dietrich Wörner am Donnerstag in Berlin. Die Wissenschaftler gehen aber davon aus, dass das Labor seine Batterien wieder auflädt, wenn der Komet der Sonne näher kommt. Dann könnte es aus seinem Dornröschenschlaf erwachen.
Aus den zahlreichen Mosaiksteinen, die bisher vorliegen, haben die Forscher bereits ein detailliertes Bild von „Tschuri“ zusammengesetzt:
FORM: Der Komet, dessen volle Bezeichnung „67P/Tschurjumow-Gerassimenko“ lautet, besitzt grob die Form eines Quietsche-Entchens mit einem kleineren Kopf und einem größeren Körper, die über einen schmalen Hals verbunden sind. Der Kopf hat in etwa einen Durchmesser von zwei Kilometern, der Körper ist rund vier Kilometer lang. Ob es sich ursprünglich um zwei Brocken gehandelt hat, die irgendwann zusammengeklumpt sind, oder ob der Hals das Ergebnis eines ungleichmäßigen Abschmelzens des Kometen ist, wird noch untersucht.
FARBE: Anders als beispielsweise viele Asteroiden weist der Komet nahezu keine Farbschattierungen auf. Nur der Hals und einzelne Brocken auf der Oberfläche erscheinen etwas heller. „Effektiv sind Kometen doppelt so schwarz wie Kohle“, wird „Osiris“-Forscher Dennis Bodewits von der Universität von Maryland in einer Mitteilung seiner Hochschule zitiert.
OBERFLÄCHE: Überraschend vielfältig zeigt sich dagegen die Oberfläche. Es gibt steile, bis zu 700 Meter hohe Klippen, Staubdünen, glatte Ebenen, Furchen, Geröllhalden mit Gruben und großflächige Senken. Viele Gegenden sind von einer vermutlich meterhohen Staubschicht bedeckt. Rund 70 Prozent von „Tschuris“ Oberfläche hat „Rosetta“ bereits mit einer Auflösung kartiert, bei der mindestens 80 Zentimeter große Details zu erkennen sind. Bislang haben die Forscher 19 unterschiedliche Landschaften identifiziert und nach ägyptischen Gottheiten benannt. „Auch aus morphologischer Sicht hebt sich die Halsregion des Kometen deutlich von den anderen Bereichen ab“, erläutert Sierks. Anders als Kopf und Körper ist der Hals des Kometen glatt und frei von Furchen oder Kratern.
Allerdings zeigt sich ein langer Riss am Hals, der Folge einer mechanischen Belastung sein könnte. „Wir wissen noch nicht, ob sich der Riss komplett um den Hals zieht“, sagt Sierks. Darüber hinaus haben die Forscher in Halsnähe und auf dem Rücken des Kometenkerns bis zu 200 Meter tiefe und bis zu 300 Meter breite zylinderförmige Löcher entdeckt. Deren Wände haben eine Art Gänsehaut - sie sind mit etwa drei Meter großen Klumpen gepflastert. Das könnte darauf hinweisen, dass sich die Materie im jungen Sonnensystem, die auch das Baumaterial des Kometen stellte, generell nur bis zu dieser Größe zusammenballen konnte. Möglicherweise besteht also das gesamte Kometeninnere aus solchen Brocken.
ZUSAMMENSETZUNG: Zum ersten Mal konnten die „Rosetta“-Forscher auf direkte Weise die Dichte eines Kometen bestimmen. Ergebnis: „Tschuri“ ist mit 470 Kilogramm pro Kubikmeter (470 Gramm pro Liter) etwa so schwer wie Kork. „Wir gehen davon aus, dass der Komet aus Eis und Staub besteht, Materialien, die beide eine deutlich höhere Dichte aufweisen“, betont Sierks. Die gemessene Dichte deutet also darauf hin, dass der Kometenkern porös und zu 70 bis 80 Prozent leer ist. „Wir verstehen ihn derzeit als eine Art lockere Ansammlung von Eis- und Staubteilchen mit vielen, vielen Zwischenräumen“, sagt der Göttinger Weltraumforscher.
AKTIVITÄT: Bereits jetzt ist der Komet überraschend aktiv. „Er hat schon mehr Staubfontänen als viele andere Kometen bei ihrer größten Annäherung an die Sonne“, berichtet Bodewits. Auch hier ist der Hals des Kometen die Schlüsselregion. Die meisten Staubfontänen liegen bislang dort. In den vergangenen Monaten hat „Tschuri“ ungewöhnlicherweise viermal soviel Staub ins All gespuckt wie Gas - normalerweise produzieren Kometen mehr Gas als Staub. Der Gas- und Staubausstoß beschert dem Kometenkern nicht nur eine dünne Atmosphäre. Staubklumpen umkreisen den Kometenkern in bis zu 145 Kilometern Entfernung und vermutlich seit seiner vorangegangenen Annäherung an die Sonne.
„Die Aktivität wird bis zur größten Annäherung an die Sonne noch um den Faktor 100 zunehmen“, erwartet Sierks. „Rosetta“ wird sich zu diesem sogenannten Perihel (Sonnennähe) im August auf einen Sicherheitsabstand von etwa 100 Kilometern zurückziehen. „Wir wissen, dass der Komet bei jedem Umlauf im Schnitt eine zwei bis drei Meter dicke Schicht seiner Oberfläche verliert“, sagt Sierks. „Wir erwarten daher nach dem Perihel in großen Teilen eine ganz neue Oberfläche.“ Nach „Tschuris“ größter Annäherung an die Sonne müssen die Forscher daher neue Karten des Kometen erstellen.