Apps als Therapeut? Forscher fordern mehr Psychotherapie im Netz
Florenz (dpa) - Der hohe Bedarf an psychotherapeutischen Angeboten kann nach Ansicht einiger Wissenschaftler nur online gedeckt werden.
Der kanadische Psychiatrie-Professor Michael Krausz von der University of British Columbia sieht im Netz den einzigen Raum, in dem maßgeblich zusätzliche Kapazitäten für die Therapie geschaffen werden können. Wie die Ressourcen des Internets für die Förderung der psychischen Gesundheit und der Früherkennung und Behandlung psychischer Störungen genutzt werden können, sollte auch Thema auf dem Europäischen Psychiatrie-Kongress in Florenz sein.
In einer Zeit, in der ohnehin mehr Menschen unter psychischen Belastungen litten, böten webbasierte Beratungs- und Therapieangebote neue Möglichkeiten, sagte Krausz einer Mitteilung zufolge.
Das Gesundheitssystem erreicht längst nicht alle Menschen - und das liegt nicht nur an Versorgungsengpässen etwa im ländlichen Raum. „Studien haben gezeigt, dass es vielmehr an der Präferenz der Menschen liegt, ihre Probleme selbst zu bewältigen“, sagt David Ebert. Eberts Forschung am Lehrstuhl für Klinische Psychologie und Psychotherapie der Universität Erlangen konzentriert sich auf die Entwicklung und Evaluation der sogenannten Internet- und mobil-basierten Interventionen, kurz: IMIs.
„Es ist nichts schlimmes, Herr seines eigenen Lebens sein zu wollen“, sagt Ebert. „Man muss sich aber fragen: Ist unser Gesundheitssystem dafür ausgerichtet oder müssen wir nicht versuchen, alles, was wir wissen, so aufzubereiten, dass Betroffene, die das wünschen, bewährte psychologische Interventionen auch vorwiegend selbstständig durchführen können?“
Die Betonung liegt auf „vorwiegend“, denn menschliche Unterstützung erhöht den Wirkungsgrad der IMIs. Aber je nach Krankheitsbild könne auch die reine Selbsthilfe effektiv sein, etwa bei der Bewältigung von Schlafstörungen, sagte Ebert. „Es ist aber extrem wichtig, dass ein therapeutisches Konzept da ist, dass Betroffene dabei unterstützt, die Methoden richtig anzuwenden, bei Krisen die notwendige Unterstützung gewährleistet, oder bei Nicht-Erfolg in weitere Maßnahmen weiterleitet.“ Denn nicht für jeden Patienten sei dieselbe Intervention die passende. „Wir müssen pro Patient entscheiden: Was ist das geeignete Medium?“
Dabei kann das klassische Gespräch zwischen einem Therapeuten und seinem Patienten auf unterschiedliche Weise in den virtuellen Raum übertragen werden: etwa über E-Mails, Chats oder Video-basierte Sitzungen. Spezielle Apps können darüber hinaus für Erinnerungs-, Feedback- und Verstärkungsautomatismen genutzt werden. „Spür in dich hinein: Welche Emotionen sind aktiviert?“ oder „Bewerte deine Angst auf einer Skala von 1 bis 10“ könnten mögliche Aufforderungen lauten, die auf dem Smartphone eines Patienten eingehen.
IMIs sind unabhängiger von Ort und Zeit als klassische Therapieformen, so dass Flexibilität und Autonomie für Patient und Therapeut gleichermaßen steigen. So viele Vorteile die neuen Ansätze aber auch bieten mögen - mögliche negative Effekte sind noch nicht gut erforscht. Komme ein Patient das erste Mal über eine webbasierte Intervention mit der Therapie in Kontakt und habe keinen Erfolg, könne ihn das noch hoffnungsloser stimmen.
Mittlerweile haben Ebert zufolge auch viele Start-ups das Feld der webbasierten Angebote für sich entdeckt - allerdings seien viele kommerziell orientiert. In Task-Forces wie der der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie (DGPPN) und der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (DGPs) versuchen Experten nun, Qualitätskriterien zu schaffen.