Einsätze vor der libyschen Küste Wuppertaler rettet mit seinem Sohn Flüchtlinge aus dem Mittelmeer
Zum zweiten Mal war der Wuppertaler Achim Stein auf Rettungseinsatz vor der libyschen Küste. Seine Erlebnisse schockieren. Kritik an seiner Mission weist der 55-Jährige zurück.
Wuppertal/Mittelmeer. Zur Mitte ihres Einsatzes passiert das, was die Besatzung der „Sea Eye“ in jedem Fall verhindern wollte. Das Schiff muss 156 Personen aufnehmen. Ausgelegt ist es für so viele Passagiere nicht. Doch die Alternative wäre, die Menschen, die sich von der libyschen Küste auf den Weg gemacht haben, im Mittelmeer sich selbst zu überlassen — auf einem Boot, das schon jetzt beinahe auseinanderfällt. Die anderen Rettungsschiffe sind überfüllt, die „Sea Eye“ die letzte Hoffnung.
Die Lage im Mittelmeer ist weiter dramatisch. Diese Erfahrung machte Achim Stein (55), Arzt aus Wuppertal, der in diesem Jahr bereits zum zweiten Mal einen Rettungseinsatz vor der libyschen Küste mitgemacht hat.
Eigentlich hatte der Einsatz ruhig angefangen. Am Mittwoch, den 21. Juni, hatte sich die neunköpfige Besatzung der „Sea Eye“ vom maltesischen Valletta aus auf den Weg gemacht. Etwa 30 Stunden dauert die Fahrt zu den kritischen Regionen zwischen Libyen und Italien. In den ersten Tagen patroullieren die Helfer noch entlang der 24 Seemeilen-Grenze, in denen das Gewässer von den libyschen Behörden kontrolliert wird. Am Sonntag kommt dann der erste Hilferuf. Die Seenotrettungsleitstelle in Rom bittet die Schiffe der Nichtregierungsorganisationen (NGOs), sich auf den Weg zu machen. „Es wurden an diesem Morgen etwa 30 Boote gemeldet, die die libysche Küste auf Höhe Sabratah verlassen haben“, schreibt Achim Steins Sohn Johannes in seinem Einsatztagebuch — für ihn war es der erste Einsatz.
Erst jetzt fahren die Rettungsschiffe näher an die Küste. Zwölf Seemeilen Abstand müssen sie aber in jedem Fall halten — dort beginnt libysches Gewässer. Mit der Meldung beginnt ein fünftägiger Dauereinsatz. Teils versorgen sie die Bootsinsassen mit Schwimmwesten, teils ziehen sie sie zu einem größeren Boot, das sie aufnehmen kann. Was später mit ihnen passiert, wissen sie nicht. Viele landen in Italien.
Einsätze wie diese stoßen immer wieder auf Kritik. Auch Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) äußerte sich erneut zu den NGOs im Mittelmeer. „Die Italiener untersuchen Vorwürfe gegen NGOs: Zum Beispiel, dass Schiffe ihre Transponder regelwidrig abstellen, nicht zu orten sind und so ihre Position verschleiern“, sagte er in einem Interview. „Das löst kein Vertrauen aus.“ Der italienische Innenminister Marco Minniti habe ihm auch gesagt, dass es Schiffe gebe, die vor der libyschen Küste einen Scheinwerfer einschalteten, um den Schleppern ein Ziel vorzugeben. Österreichs Innenminister ging mit seiner Kritik weiter: Natürlich dürfe niemand im Mittelmeer ertrinken. „Wir müssen aber trotzdem unterbinden, dass sogenannte Helfer weiterhin mit ihren Booten in libysche Hoheitsgewässer eindringen und dort die Flüchtlinge von den Schleppern direkt übernehmen.“
Ohne NGOs keine Flüchtlinge? Achim Stein bezeichnet diese These vorsichtig als „gewagt“. Seine Erfahrungen sprechen eine andere Sprache. „Ob da ein Rettungsschiff ist oder fünf sind interessiert die Schlepper nicht.“ Sie würden die Boote in jedem Fall losschicken.
In den Camps vor der libyschen Küste herrschten katastrophale und menschenunwürdige Zustände. „Es gibt quasi keine Frau, die in solch einem Lager war und nicht Opfer einer Vergewaltigung wurde“, sagt er. Die Menschen, die in diesen Camps gestrandet seien — egal aus welchen Gründen sie ihre Heimat Richtung Norden verlassen hätten — wollten dort nur noch weg. Der Alltag sei gekennzeichnet von Misshandlungen, Folter und Zwangsarbeit. Denn die sei die einzige Chance, das Camp zu verlassen — auf einem Schlauchboot über das Mittelmeer. „Die Schlepper erzählen den Leuten, dass sie von da in drei Stunden in Italien sind“, sagt Achim Stein. Vor der libyschen Küste liegen Bohrinseln, die ein Licht senden. Das sei das Festland, behaupten sie. Tatsächlich sind es von dort noch etwa 150 Seemeilen — das entspricht knapp 280 Kilometern. Dass sie keine Chance haben, den Weg ans Festland zu schaffen, merken die Leute erst später. „Das sehen wir an ihren Augen, wenn wir ihnen die Karte zeigen“, sagt Stein.
13 000 Menschen hätten sich in fünf Tagen während ihres Einsatzes auf den Weg gemacht. Woher die — im Vergleich zu Medienberichten — hohe Zahl kommt? Finden die Helfer ein Flüchtlingsboot, befragen sie die Insassen, mit wie vielen Booten sie von der Küste gestartet sind. Die Angaben seien meist recht präzise — auch die italienische Seenotleitstelle überwache mit Flugzeugen die Gebiete und zähle die gesichteten Boote. „Die Differenz zu den später gefundenen ist aber regelmäßig groß“, sagt Achim Stein.
Und das hat Gründe. Die Boote, mit denen die Menschen losgeschickt werden, hätten kaum Chancen, den Weg bis nach Italien zu schaffen. Meist sind es Gummiboote mit einem provisorisch zusammengeschraubten Holzboden. Die Boote überstehen gerade die Fahrt in internationales Gewässer. Seien die Menschen dann von den Rettern geborgen, seien schnell sogenannte Engine Fisher zur Stelle und sammelten die teuren Außenbordmotoren ein, um sie zurück zur Küste zu bringen und wieder zu verwenden.
Angesichts der Lage sucht die EU nach Gegenmaßnahmen. Eine davon ist, die libysche Küstenwache besser auszubilden. Für Achim Stein skandalös. Mehrfach hätten die Helfer beobachtet, wie Schlepper und Engine Fisher mit den Mitarbeitern der Küstenwache im Gespräch waren. Ob sie gemeinsame Sache machen, sei nur eine Vermutung, die sich nicht nachweisen lässt.
Achim Stein ist jedenfalls überzeugt: Wenn die NGOs dort nicht weiterarbeiten, „ersaufen die Menschen dort einfach.“