Zeugnisse: Die „Vier“ kann ein Erfolg sein

Was Schul-Experten über gute und schlechte Noten und hohe Erwartungen sagen. Es gibt Strategien, Probleme zu überwinden.

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Aachen. Am Freitag gibt es an allen Schulen in Nordrhein-Westfalen Zeugnisse. Die meisten Schülerinnen und Schüler wissen zwar bereits, was sie zu erwarten haben - aber wenn sie das Ergebnis des Schuljahrs dann in gedruckter Form mit nach Hause nehmen und ihren Eltern zeigen müssen, kann das beim einen oder anderen doch Sorgen und Angst auslösen.

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„Die Zeugnisvergabe kann eine ohnehin angespannte familiäre Situation verschärfen, besonders dann, wenn Jugendliche in der Pubertät sind.“ Das sagt Elisabeth Pajonk von der Erziehungsberatungsstelle der Städteregion in Kohlscheid. Es sei besser, das Thema Zeugnis zunächst einmal ruhen zu lassen, eine Erholungspause einzulegen.

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„Wichtig ist es, im Schuljahr Elternsprechtage und die Kontakte zu den Lehrern zu nutzen und den Umgang in der Familie zu hinterfragen“, sagt sie. Sie regt an, die Lern-Atmosphäre daheim zu bedenken, vor allem Jugendliche nach der Schule nicht sofort mit Fragen wie „Habt ihr die Arbeit zurück?“ oder „Was war los?“ zu bedrängen. Hier können Alltagsstrategien für Strukturen sorgen — auf keinen Fall dürfe jedoch der Vorwurf der Faulheit dazu gehören.

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„Kinder brauchen Ferien, mindestens zwei Wochen an einem Stück“, fordert Professor Beate Herpertz-Dahlmann, Direktorin der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie in der Uniklinik Aachen. Sie höre immer wieder von Familien, in denen die Jugendlichen während der Ferien täglich lernen müssen. Aber: „Selbst zwei Stunden am Tag setzen das Kind unter Spannung.“

Schul- und Versagensängste liegen laut Herpertz-Dahlmann in der häufig extrem hohen Erwartungshaltung der Eltern begründet. „Die höchste Rate bei den Schulverweigerern registrieren wir, wenn die Schule wieder anfängt.“ Vielfach beobachtet die Ärztin bei Schülern körperliche Symptome — Magenschmerzen, Durchfall, Schwindel bis zum Erbrechen, die mit der Angst vor der Schule zusammenhängen.

„Ein Zeugnis markiert stets die individuelle Entwicklung eines Jugendlichen“, sagt Anna Kempen, stellvertretende Leiterin des schulpsychologischen Dienstes Kreis Düren. Nach ihrer Einschätzung haben auch persönliche Veränderungen eine Bedeutung — ob sich nun Noten verbessern oder verschlechtern.

„Das Zeugnis ist kein Krisengebiet mehr, aber eine wichtige Rückmeldung in Noten, die auch der Schüler braucht, die mit seinem Leben zu tun hat“, sagt sie. Sie rät besorgten Eltern, über den Elternsprechtag hinaus den Kontakt zu Lehrern aufzunehmen, konkrete Fragen anzusprechen, wenn etwas beunruhigt. Ein für die Zeit um die Zeugnisvergabe eingerichtetes Zeugnistelefon hilft dabei, die Gedanken spontan zu sortieren und Emotionen aufzufangen — bei Eltern und Kindern gleichermaßen. (Telefonnummern im Infokasten).

„Diese Angst muss man sehr ernst nehmen“, sagt Annette Greiner, Leiterin der Schulpsychologischen Beratungsstelle im Kreis Heinsberg. „Kinder sollten unbedingt eine Vertrauensperson außerhalb der Familie ansprechen, die dann vermitteln kann, etwa die Eltern anruft, bevor das Kind nach Hause geht.“ Kinder und Jugendliche müssten in jedem Fall Verständnis erfahren, damit sie nicht aus der Bahn geworfen werden.

„Niemand sollte einfach behaupten, dass ein Schüler faul ist.“ Annette Greiner rät deshalb dazu, die Faktoren, die zu einer schlechten Note geführt haben, zu ermitteln. „Aus dem Gefühl, sich nicht verstanden zu fühlen, können zwischen Lehrkräften und Schülern Spannungen erwachsen.“ Die manchmal nachlassende Anstrengungsbereitschaft und die fehlende Kraft, den inneren Schweinehund zu überwinden, seien zum Beispiel Faktoren.

Ihre Arbeit als Schulpsychologin sieht sie darin, Ängste zu mindern und bisher nicht genutzte Ressourcen aufzuzeigen. „Es gibt Schulsozialarbeiter und Vertrauenslehrer, die sehr gut helfen können.“ Häufig werde ein Zeugnis aber auch zu einseitig gelesen: „Da hat jemand Probleme in Mathe und Deutsch, aber eine Eins in Sport, das muss man auch werten“, fordert sie. „Es gilt, das Gute nach vorn zu holen.“

„Beide Reaktionen sind in Ordnung, doch sie sollten maßvoll sein“, findet Beate Herpertz-Dahlmann. Es sei wichtig, die Belohnung nicht von der konkreten Note abhängig zu machen. Wenn Eltern, erkennen, dass sich ein Kind Mühe gegeben hat, ist das entscheidend. Da sei auch die Vier in Mathe ein Sieg, wenn dort zuvor ein „Mangelhaft“ stand oder drohte. Wo eindeutig Faulheit die Ursache sei, zum Beispiel beim offensichtlich schludrigen Umgang mit Hausaufgaben, ist sie für Sanktionen. „Der Entzug von Privilegien ist durchaus sinnvoll, zum Beispiel ein Reduzieren der Computerzeit.“

„Da wird um Noten regelrecht gefeilscht.“ Andreas Lux, Leiter der Gesamtschule Aachen-Brand, beobachtet, dass die Elternwidersprüche deutlich zunehmen, dass der Druck vor allem bei Gymnasiasten steigt. Er stelle lieber die Frage, was für den Jugendlichen gut sei: nicht die absolute, sondern die individuelle Entwicklung müsse im Vordergrund stehen. „Es gibt Jugendliche, die haben plötzlich eine Lebensaufgabe, wenn zum Beispiel ein Elternteil stirbt“, meint er. „Da verändert sich alles. Und das muss man bedenken.“

Ein Kind sollte in seiner gesamten schulischen Entwicklung begleitet werden. Wenn Eltern und Lehrer an einem Strang ziehen, können Probleme frühzeitig erkannt werden, sagt Andreas Lux. Das System Schule biete zahlreiche Fördermöglichkeiten und Unterstützungsangebote. „Wenn Schüler frühzeitig an ihren Lücken arbeiten können, haben sie gute Chancen, den Anschluss nicht zu verlieren“, betont der Pädagoge.