Deportation Zwangsarbeit in der Sowjetunion: 2500 Euro — eine Geste nach 71 Jahren

Die Solingerin Traute Sommer gehört zu den 200 000 Zivilisten, die bei Kriegsende in die Sowjetunion deportiert wurden. Viele der Zwangsarbeiter starben. Das Schicksal der Überlebenden wird erst jetzt anerkannt.

Foto: Kurz

Solingen. „Es war eine gigantische Maschinerie, die beliebig und willkürlich riesige gesichtslose Menschenströme verschob. Mittendrin ich, ein dummes unmündiges Schulmädchen, durch den Wolf gedreht und lebendig, wenn auch nicht unbeschädigt wieder ausgespien. Ich kann nicht aufhören, darüber fassungslos zu sein.“ Die das sagt, ist heute 87 Jahre alt. Und es war sehr nah dran, dass ihr Leben, so wie das zahlloser Leidensgenossen, schon 1945 zu Ende gewesen wäre.

Im März 1945, da ist Traute Sommer 16 Jahre alt, als sie in Elbing, nahe der Ostseeküste im früheren Ostpreußen (dem heutigen polnischen Elblag) auf offener Straße verhaftet wird. Ohne die Möglichkeit, ihre Eltern zu benachrichtigen, wird sie von russischen Soldaten mitgenommen. Und dann beginnt eine sechsmonatige Leidenszeit, die sie bis heute immer noch weiter verarbeitet, wohl nie ganz verarbeiten kann.

Dass diese Schicksalsmonate bei der Solingerin gerade jetzt wieder so ins Bewusstsein vordringen, hat mit einer Entscheidung des Bundestages zu tun, die — von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen — reichlich lapidar am 7. Juli mitgeteilt wurde. Auf der Internetseite des Bundesverwaltungsamtes hieß es an diesem Tag: „Auf Antrag können ehemalige deutsche Zwangsarbeiter, die als Zivilpersonen aufgrund ihrer deutschen Staatsangehörigkeit oder Volkszugehörigkeit kriegs- oder kriegsfolgenbedingt zur Zwangsarbeit herangezogen wurden, einen einmaligen Anerkennungsbetrag in Höhe von 2500 Euro erhalten.“

2500 Euro — das klingt, als gehe es da um keine große Sache. Was durch 2500 Euro ausgeglichen werden soll, kann ja nicht sehr bedeutend sein. Der Gedanke indes ist falsch, ganz falsch. Es geht um das Schicksal von Zwangsarbeitern, das Frey Klier in ihrem Buch mit dem treffenden Titel „Verschleppt ans Ende der Welt“ beschrieben hat. Und das über die Jahrzehnte hinweg so gut wie gar nicht wahrgenommen wurde. Allein in Ost- und Westpreußen, Mecklenburg, Pommern und Schlesien betraf es mehr als 200 000 Menschen, überwiegend Frauen und minderjährige Mädchen.

Aber auch die Volksdeutschen aus den osteuropäischen Siedlungsgebieten (Rumänien, Jugoslawien, Ungarn, Bulgarien, der Tschechoslowakei) wurden mit dem Vormarsch der Roten Armee am Ende des Zweiten Weltkriegs deportiert. Sie alle wurden gezwungen, als lebende Reparationen in Zwangsarbeit die deutsche Kriegsschuld abzuarbeiten. Und wieder aufzubauen, was beim Rückzug der deutschen Wehrmacht als „verbrannte Erde“ hinterlassen wurde.

Jeder Vierte, vielleicht sogar jeder Dritte, so die Schätzungen, kam nicht mehr zurück. Und diejenigen, die überlebten, kämpften jahrzehntelang erfolglos dafür, dass ihr Schicksal wenigstens zur Kenntnis genommen wurde. Ein Schicksal, das im Schatten all der anderen Kriegsschicksale kaum sichtbar war: dem der Toten des Holocaust oder auch dem Schicksal der vom Naziregime in Deutschland eingesetzten Zwangsarbeiter, über deren Entschädigung jahrelang gestritten wurde. Ein Schicksal, das die Sowjetunion nicht anerkannte, geschweige denn finanziell ausgleichen wollte und das hierzulande auch immer weggeschoben wurde.

„Den Entschädigungsanspruch haben die verschleppten zivilen Zwangsarbeiter gegen die Bundesrepublik Deutschland, für die sie stellvertretend durch ihre Zwangsarbeit Reparationsleistungen erbracht haben“, hat Traute Sommer schon immer gesagt. Doch wie viele ihrer Leidensgenossen sind jetzt noch übrig?, fragt sie sich. Und sie fragt, ob diejenigen, die nun einen Anspruch auf die 2500 Euro haben, dies überhaupt mitbekommen? Sind sie doch meist noch älter als sie selbst mit ihren heute 87 Jahren. Schließlich war sie damals eine der Jüngsten.

Das Leid beginnt für die 16-jährige Traute Sommer nach ihrer Festnahme in Elbing, mit der Inhaftierung und Verhören. Und dann die Fahrt in die Hölle. In Viehwaggons zusammengepfercht, hockend oder stehend, wird sie tagelang mit 2000 Leidensgenossen, darunter mehr als 1300 Frauen, nach Petrosawodsk/Karelien, etwa 400 Kilometer nordöstlich von St. Petersburg, gebracht. „Nach mehr als einer Woche Zugfahrt — täglich gibt es nur zwei Scheiben Hartbrot und viel zu wenig Trinkwasser — wird sie mit ihren Leidensgenossen auf freier Strecke im Wald ausgeladen. Manche bleiben, von den Strapazen und den vorangegangenen Misshandlungen völlig am Ende ihrer Kräfte, einfach im Schnee liegen. Wer noch kann, stolpert durch knietief verschneiten Wald bis zu dem Lager.

Dort kommt das Mädchen in eine Baracke mit 16 doppelstöckigen Betten. Heute sagt sie: „Unsere größte Seligkeit (denn alles ist relativ) war: Jede von uns bekam eine Pritsche ganz für sich allein — endlich konnten wir uns ausstrecken.“ Wenn Traute Sommer von den Strapazen der Arbeit spricht — Bäume fällen, Stubben roden, Holz verladen, Wege bauen, Kalkbrennen, Wasser für mehr als 1000 Menschen in schweren Molkereikannen vom Brunnen zur Küche schleppen — wird verständlich, warum viele das nicht überlebten. „Wir trugen unsere Klamotten Tag und Nacht, denn die Bretterpritschen waren kahl. Und wenn wir nass von der Arbeit kamen, mussten wir nachts in der feuchten Kleidung auf den Pritschen liegen.“

Sie spricht von dem angesichts der harten Arbeit kärglichen Essen: täglich 300 Gramm feuchtes Brot, morgens und abends eine halbe Konservendose Wassersuppe und zwei Esslöffel Kascha (Brei aus Hirse oder Graupen). Sie spricht von den Wanzen, Läusen, von Typhus, Ruhr, Skorbut. Von Geschlechtskrankheiten und Fehlgeburten nach Vergewaltigungen im Lager. Und wie sie schließlich im September ausgelaugt und arbeitsunfähig wieder in einen Waggon gesteckt und am Ende allein in Frankfurt/Oder ausgesetzt wird. 16-jährig, körperlich und seelisch gezeichnet und auf sich allein gestellt. Ohne irgendetwas. Ins heimatliche Elbing darf sie nicht mehr, erst nach fast zwei Jahren ist sie wieder bei ihren Eltern. All das ist besser als im Lager, aber im darbenden Nachkriegsdeutschland ist es natürlich noch nicht gut. Aber das ist eine andere Geschichte.

Traute Sommer will vor allem, dass die Geschichte der Verschleppung und Internierung erzählt wird, die ja eben nicht nur ihre, sondern die von ganz vielen Leidensgenossen ist. Darum ist es ihr so wichtig, dass das Thema in die Öffentlichkeit getragen wird. Dass wenigstens diejenigen, die noch leben, erfahren, dass ihr Schicksal anerkannt wird. „Natürlich können die 2500 Euro nur eine Geste sein“, sagt sie. Besonders, wenn man bedenke, dass die Letzten erst 1950 aus der Zwangsarbeit entlassen wurden. „Aber diese Geste ist wichtiger als das Geld. Eine späte Anerkennung von Leiden und Leistungen, die bisher als ,Kollateralschäden’ abgetan wurden“, sagt Traute Sommer.

Wer sich für die ganze Geschichte von Traute Sommer interessiert: Sie hat sie ausführlich aufgeschrieben, sie ist im Internet zu finden.