Analyse: Gewalt in Ukraine reißt nicht ab
Slawjansk (dpa) - Das Bangen um deutsche Militärbeobachter in der Ostukraine hat ein Ende: Prorussische Separatisten lassen die Männer frei. Aber die blutigen Kämpfe in der Ex-Sowjetrepublik gehen weiter.
Erstmals erreicht die Gewalt die Millionstadt Odessa.
Es ist ein Zeichen der Hoffnung inmitten blutiger Gewalt: Nach einer Woche quälender Geiselhaft sind die OSZE-Beobachter aus der Gewalt der Separatisten freigekommen. Das russische Staatsfernsehen zeigte, wie die drei Bundeswehroffiziere mit ihrem Übersetzer in der umkämpften Stadt Slawjansk noch etwas verunsichert an Bewaffneten in Tarnuniform vorbei zu Autos gehen, die sie schnell aus der Gefahrenzone bringen.
Die Nachricht von der Freilassung wurde auch in Moskau mit Genugtuung aufgenommen. Der Kreml hatte eigens den langjährigen Menschenrechtsbeauftragten Wladimir Lukin zu Verhandlungen mit den Protestführern entsandt. Russland bezeichnet die Separatisten als Freiheitskämpfer - da kommt eine Geiselnahme schlecht an.
Die Freilassung sei eine „Geste des guten Willens“ der Aktivisten, sagt Lukin später, nun sollte die Zentralregierung in Kiew ihren „Anti-Terror-Einsatz“ gegen die Aktivisten unterbrechen. Doch die Schusswechsel rund um Slawjansk gehen unverändert weiter.
Gut 500 Kilometer südwestlich in der Millionenstadt Odessa entlädt sich die Wut zwischen Gegnern und Anhängern der Regierung in Kiew in einem beispiellosen Gewaltexzess. Mehr als 40 Menschen sterben bei Straßenschlachten in der Hafenstadt, als das Gewerkschaftshaus durch Molotowcocktails in Brand gerät und zur Todesfalle wird. Mit scharfen Worten machen sich Moskau und Kiew gegenseitig verantwortlich.
„Die Hände der Führung in Kiew stecken bis zum Ellbogen in Blut“, sagt Kremlsprecher Dmitri Peskow. In Berlin betont Außenminister Frank-Walter Steinmeier, die Tragödie von Odessa müsse ein „Weckruf“ sein. Doch ganz im Gegenteil - die Fronten in der früheren Sowjetrepublik verhärten sich immer mehr.
Seit den ersten Toten des Konflikts im Januar reißt die Gewalt nicht ab: „Die Blutspur zieht sich immer weiter durchs Land“, sagt der ukrainische Politologe Wladimir Fessenko. „Es scheint, als ob der Widerstand gegen die Regierung mit jedem Toten größer wird - auch bei Bürgern, die bisher eher unpolitisch waren“, meint er.
Immer mehr Menschen in der krisengeschüttelten Ukraine fragen sich, wie in dieser Atmosphäre der allgemeinen Verunsicherung am 25. Mai eine Präsidentenwahl stattfinden soll. Im Osten von Europas zweitgrößtem Flächenland halten schwer bewaffnete Separatisten zahlreiche Verwaltungsgebäude besetzt, zudem hat sich die völkerrechtlich zur Ukraine gehörende Halbinsel Krim nach einem umstrittenen Referendum Russland angeschlossen. Und an der Grenze stehen Zehntausende russische Soldaten. „Die Katastrophe von Odessa hat die Gefahr des Ausnahmezustands näher rücken lassen“, kommentiert die Kiewer Zeitung „Serkali Nedeli“.
Kremlkritiker werfen Putin vor, dass der Präsident genau dies wolle. Offiziell verurteile Russland die Exzesse zwar, aber im Hintergrund dienten sie Moskaus Interessen: Die Gewalt diskreditiere die prowestliche Führung in Kiew zunehmend. Bereits Anfang März hatte sich Putin die parlamentarische Vollmacht zu einem Truppeneinsatz in der Ukraine geben lassen, sollten dort russische Bürger bedroht sein.
Der ukrainische Ministerpräsident Arseni Jazenjuk sieht seine Regierung in einer Falle. „Einerseits drängt die Mehrheit der Bevölkerung (...) auf die "Anti-Terror-Operation"“, sagt er der Zeitung „Financial Times“. Andererseits führe eine Militäraktion unweigerlich zu Opfern - und dies sei ein „idealer Vorwand“ für Russland, zum Schutz seiner Bürger in den Konflikt einzugreifen.
Russland erhalte „Tausende Hilferufe“ aus dem krisengeschüttelten Osten des Nachbarlandes, sagt Kremlsprecher Dmitri Peskow. „Es ist der Schrei der Verzweiflung und die Bitte um Hilfe.“ Putin lasse sich „rund um die Uhr“ über das Geschehen informieren. „Noch wissen wir nicht, wie wir reagieren werden. Es ist für uns eine neue Situation“, sagt Peskow. Es klingt vieldeutig in diesen aufgeheizten Tagen.