Verfassungsreferendum Auslandstürken stimmen über mehr Macht für Erdogan ab
Berlin (dpa) - In Deutschland und anderen europäischen Ländern lebende Türken können seit heute über eine starke Ausweitung der Machtbefugnisse des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan abstimmen.
In Deutschland sind bei dem Verfassungsreferendum rund 1,4 Millionen Wahlberechtigte zur Stimmabgabe aufgerufen - mehr als in jedem anderen Land außerhalb der Türkei. Auch in Österreich, der Schweiz, Belgien, Dänemark und Frankreich können Türken seit Montag zwei Wochen lang bis zum 9. April abstimmen. In der Türkei selbst ist das Referendum über die Verfassungsreform für den 16. April angesetzt. Umfragen deuten auf ein knappes Ergebnis hin. Die als eher konservativ eingeschätzten Auslandstürken könnten entscheidend sein.
Das von Erdogan angestrebte Präsidialsystem würde die Stellung des Präsidenten erheblich stärken. Kritiker warnen vor einer Ein-Mann-Herrschaft und einer Einschränkung der Gewaltenteilung. Der Wahlkampf in der Türkei und vor allem der Widerstand in Deutschland, den Niederlanden und anderen europäischen Ländern gegen Wahlkampfauftritte türkischer Politiker hatten wütende Reaktionen Erdogans und anderer Regierungsmitglieder in Ankara ausgelöst. Unter anderem überzog Erdogan Deutschland und die Niederlande mit Nazi-Vergleichen. Die Beziehungen zwischen der Türkei und ihren europäischen Partnern sanken auf einen Tiefpunkt. Ein EU-Beitritt der Türkei scheint in größere Ferne gerückt zu sein.
Gülay Kizilocak, Wissenschaftlerin des Essener Zentrums für Türkeistudien, sagte im WDR, die Mehrheit der in Deutschland lebenden Türken stehe Erdogans islamisch-konservativer Regierungspartei AKP nahe. „Insgesamt stammen die Menschen mit türkischen Wurzeln, die hier seit über fünf Jahrzehnten leben, aus ländlichen Gegenden, die konservativ-religiös geprägt sind“, erläuterte Kizilocak. „Und die fühlen sich von der AKP angesprochen und wählen diese Partei. Dieser Konservatismus überträgt sich auch auf die nachfolgenden Generationen.“
Zu den Andersdenkenden gehört Hattice G., die seit 28 Jahren in Köln lebt und in Hürth ihre Stimme abgab: „Wenn die Verfassungsänderung kommt, ist die Demokratie in Gefahr, deshalb habe ich mit Nein gestimmt“, sagte sie. Dagegen sagte Ahmet Gidal, das Präsidialsystem werde die Türkei „politisch und wirtschaftlich weiter stärken“.
Die Ja-Kampagne der Befürworter der Verfassungsänderung war von der türkischen AKP-Partei in Deutschland besser organisiert als das Nein-Lager. Dessen Vertreter kündigten zum Auftakt des Referendums an, sie wollten nun viele Nein-Wähler mobilisieren. Eine der Organisatoren der Nein-Kampagne, Mürvet Öztürk, bezweifelte am Montag in Frankfurt, dass es unter den in Hessen lebenden Türken eine Mehrheit für Erdogans Pläne gebe. Die Einschränkung der Menschenrechte in der Türkei habe auch bei Erdogan-Anhängern in Deutschland Kritik gefunden.
Der türkische AKP-Abgeordnete Mustafa Yeneroglu beklagte sich hingegen nach seiner Stimmabgabe für das türkische Referendum in Hürth bei Köln über die Medien und die Politik in Deutschland. „Die Ja-Sager haben überall maximale Behinderung erleiden müssen“, sagte er. Gegner der Verfassungsänderung seien dagegen unterstützt worden.
Dass Deutschtürken im Ausland abstimmen dürfen, ergibt sich aus türkischem Recht. Deutschland hatte eine entsprechende Genehmigung trotz aller Nazi-Vergleiche und Verbalattacken aus Ankara erteilt. Abgestimmt werden kann in neun türkischen Generalkonsulaten - Berlin, Hamburg, Hannover, Frankfurt, Köln/Hürth, Düsseldorf, Münster, Karlsruhe und Mainz sowie an vier weiteren Standorten. Nach dem Ende der zweiwöchigen Abstimmungszeit werden die Wahlurnen in die Türkei gebracht und die Stimmen dort gezählt.
Ebenso wie in Deutschland lief die Abstimmung auch in anderen europäischen Ländern ruhig an. In der Schweiz sind gut 95.000 Türken stimmberechtigt. Das Verhältnis zwischen Bern und Ankara ist gerade sehr gespannt. Die Schweizer ermitteln nach dem Verdacht, dass Teilnehmer türkeikritischer Veranstaltungen gefilmt wurden, wegen Spionage. Zugleich ermitteln die Türken wegen eines Plakats, das bei einer Demonstration in Bern gezeigt wurde. Darauf war Präsident Erdogan mit einer Waffe am Kopf zu sehen. „Töte Erdogan mit seinen eigenen Waffen“, stand darauf in Englisch. In Österreich können gut 108.000 Auslandstürken an drei Standorten ihre Stimme abgeben. In Belgien sind rund 68.000 Türken und in Dänemark etwa 34.000 Türken stimmberechtigt.