Kehrtwende im Polit-Chaos Doch keine Neuwahl in Italien? Europa atmet erstmal durch
Rom/Brüssel (dpa) - Nach der hellen Aufregung über die chaotische Regierungsbildung in Italien hat sich die Lage am Mittwoch etwas beruhigt. In Rom scheint nach einer neuen Volte plötzlich doch wieder eine Koalition mit Parlamentsmehrheit möglich, was Neuwahlen vermeiden könnte.
Die populistische Fünf-Sterne-Bewegung hat einen Lösungsvorschlag gemacht: Um doch noch mit der fremdenfeindlichen Lega zu regieren und eine Übergangsregierung abzuwenden, könne man vom umstrittenen Kandidaten für das Finanzministerium abrücken und eine Person „mit gleichem Format“ finden, sagte Sterne-Chef Luigi Di Maio in einem Video auf Facebook.
Man habe den Vorschlag Di Maios „mit großer Aufmerksamkeit“ zur Kenntnis genommen, hieß es auf Anfrage aus dem Quirinalspalast, dem Sitz des Staatspräsidenten. Allerdings ist fraglich, ob sich Lega-Anführer Matteo Salvini darauf einlässt. Seine Partei hat seit der Wahl am 4. März weiter zugelegt, weshalb sie von einer baldigen Neuwahl profitieren könnte. Die Sterne dagegen sind derzeit die stärkere Partei in einem möglichen Bündnis und haben somit ein größeres Interesse daran zu regieren.
Obwohl die Chance auf eine Populisten-Regierung gering scheint, entspannte sich die Lage an den Börsen etwas. Die EU-Kommission gelobte eiserne Zurückhaltung, nachdem Kommissar Günther Oettinger mit einer Wahlempfehlung in Italien Wut ausgelöst hatte.
Und doch bleibt fast überall in Europa große Sorge über den hoch verschuldeten EU-Gründerstaat - auch wegen möglicher Turbulenzen für die Eurozone. „Wir stehen an einem Scheideweg“, meinte der SPD-Europapolitiker Udo Bullmann. „Die Situation in Italien ist extrem ernst und sensibel, nicht nur für die Italiener, sondern für alle Europäer.“
In Rom hatte es Anfang der Woche so ausgesehen, als wäre die geplante Koalition der populistischen Parteien Lega und Fünf Sterne endgültig geplatzt. Eigentlich sollte der Finanzfachmann Carlo Cottarelli als Übergangspremier eine Regierung ohne eigene Mehrheit bis zu Neuwahlen führen. Doch ließ Präsident Sergio Mattarella am Mittwoch bestätigen, dass Cottarelli mit der Bildung einer Übergangsregierung abwarte, bis klar sei, ob sich die Parteien doch noch einigen.
Das geplante europakritische Bündnis aus der Fünf-Sterne-Bewegung und der rechten Lega war an der Personalie des gewünschten Finanzministers gescheitert. Mattarella wollte den Euro- und Deutschlandkritiker Paolo Savona nicht absegnen.
Die Lega äußerte sich zu einem möglichen neuen Anlauf mit den Sternen zurückhaltend. „An diesem Punkt behindern wir keine schnellen Lösungen, (...) aber wir wollen das Wort so schnell wie möglich wieder den Italienern geben“, verlautete aus Parteikreisen. Auch Parteichef Matteo Salvini drang auf rasche Neuwahlen.
An Europas Finanzmärkten atmeten die Anleger am Mittwoch erst einmal tief durch. Am italienischen Anleihenmarkt gingen die Renditen zurück - ein Zeichen der Entspannung. Die Aktienbörsen der Region verzeichneten überwiegend Gewinne. Doch rechnen Analysten damit, dass die Unsicherheit noch einige Zeit anhält.
Italien lebt mit einem riesigen Schuldenberg, in absoluten Zahlen fast 2,3 Billionen Euro. Das entspricht fast 132 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung. Erlaubt sind nach dem EU-Regelwerk für die Währungsunion eigentlich nur 60 Prozent. Der Streit mit der EU über die Einhaltung der Haushalts- und Schuldenregeln spielt in der politischen Debatte in Italien eine erhebliche Rolle. Lega und Sterne beklagen Gängelei und Einmischung aus Brüssel.
Neuen Zunder erhielt die Auseinandersetzung am Dienstag durch eine Wahlempfehlung Oettingers in einem Interview der Deutschen Welle. Der deutsche Kommissar hatte auf die negative wirtschaftliche Entwicklung und die Turbulenzen auf den Finanzmärkten verwiesen und erklärt, er hoffe, „dass dies im Wahlkampf eine Rolle spielt, im Sinne eines Signals, Populisten von links und rechts nicht in die Regierungsverantwortung zu bringen“. Von den populistischen Parteien Lega und Fünf Sterne kam daraufhin der Vorwurf, Oettinger habe gedroht, Italien beleidigt und wie eine „Sommer-Kolonie“ behandelt.
Juncker hatte sich von Oettinger distanziert und betont, wie wichtig Italien als Gründerstaat für die Europäische Union sei. Oettinger sah sich mit Rücktritts- und Entlassungsforderungen konfrontiert und musste sich entschuldigen. Die Kommission versicherte am Mittwoch erneut, das Schicksal der Italiener bestimmten nur die Italiener. Der politische Prozess liege in der Hand von Präsident Mattarella. „Wir haben volles Vertrauen, dass das alles ein gutes Ende finden wird“, sagte ein Kommissionssprecher.
Trotzdem trifft die Italien-Krise die EU in einem heiklen Moment. Eigentlich sollen schon im Juni wichtige Reformen der Eurozone und der Flüchtlingspolitik beschlossen werden, was nun sehr unsicher ist. Finanzielle Turbulenzen könnten auch andere Länder berühren - so das hoch verschuldete Griechenland, das eigentlich im Sommer endlich aus den Euro-Rettungsprogrammen entlassen werden will. Und Spanien, das vor einem Misstrauensvotum gegen Ministerpräsident Mariano Rajoy selbst vor Neuwahlen stehen könnte.