Erdogan ruft nach Wahlsieg zu „Aussöhnungsprozess“ auf
Istanbul (dpa) - Nach seinem Sieg bei der Präsidentenwahl in der Türkei streckt der bisherige Regierungschef Recep Tayyip Erdogan seinen Gegnern die Hand zur Versöhnung entgegen.
„Lasst uns heute alle gemeinsamen einen gesellschaftlichen Aussöhnungsprozess beginnen lassen“, sagte Erdogan in seiner Siegesrede in Ankara. „Lasst uns die alten Auseinandersetzungen in der alten Türkei zurücklassen.“ Der 60-Jährige kündigte eine „neue Türkei“ an und versprach, er werde Staatsoberhaupt aller 77 Millionen Türken sein.
Erdogan war am Sonntag bereits im ersten Wahlgang zum Präsidenten gewählt worden. Kritiker befürchten, dass er als Präsident seine Macht weiter ausbauen und die Islamisierung der Türkei vorantreiben könnte.
Nach Erdogans Sieg will seine islamisch-konservative AKP am 27. August über seine Nachfolger als Regierungs- und Parteichef entscheiden. Die Nachrichtenagentur Anadolu meldete, die AKP berufe für den Tag vor Erdogans Amtseinführung als Staatsoberhaupt einen außerordentlichen Parteikongress ein. Erwartet wird, dass Erdogan die Posten mit Gefolgsleuten besetzt.
Erdogan hat deutlich gemacht, dass er als erster vom Volk gewählter Präsident selber die Geschicke der Türkei lenken will. Bislang war das Amt des Staatsoberhauptes vor allem zeremonieller Natur. Der Präsident darf laut Verfassung keine Verbindungen zu politischen Parteien unterhalten.
Nach dem am Montag von der Wahlkommission verkündeten vorläufigen amtlichen Endergebnis gewann Erdogan 51,79 Prozent der Stimmen. Der Kandidat der beiden größten Oppositionsparteien CHP und MHP, Ekmeleddin Ihsanoglu, kam auf 38,44 Prozent. Selahattin Demirtas von der pro-kurdischen Partei HDP erlangte 9,76 Prozent der Stimmen. Die Wahlbeteiligung lag bei 74,12 Prozent.
Bundespräsident Joachim Gauck gratulierte Erdogan. Gauck hatte im April den Zorn Erdogans auf sich gezogen, als er bei einem Besuch in der Türkei Demokratiedefizite des Landes beklagte. „Die bei meinem Besuch in Ihrem Land im April dieses Jahres begonnenen Gespräche werden wir sicherlich zu gegebener Zeit konstruktiv fortsetzen können“, hieß es nun in Gaucks Glückwunschschreiben.
Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) schickte ein Glückwunschtelegramm an Erdogan. Es sei ihr ein persönliches Anliegen, die traditionell freundschaftlichen Beziehungen beider Länder gemeinsam mit ihm fortzuführen und zu vertiefen, hieß es dort. Die EU gratulierte Erdogan zum Wahlsieg und forderte ihn zugleich zu einer versöhnenden Rolle als Staatsoberhaupt auf.
Wahlbeobachter der OSZE übten Kritik an ungleichen Voraussetzungen im Wahlkampf. Parteiische Medienberichterstattung habe sich zum Vorteil Erdogans ausgewirkt, teilte die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa mit. Erdogan habe außerdem davon profitiert, staatliche Ressourcen nutzen zu können.
Erdogan gelang der Wahlsieg trotz zahlreicher Krisen, die seine Regierung seit dem Sommer vergangenen Jahres erschütterten. Damals gingen bei den Gezi-Protesten Millionen Türken gegen seinen autoritären Regierungsstil auf die Straßen. Später sah sich seine Regierung massiven Korruptionsvorwürfen ausgesetzt.
Erdogan regiert seit 2003 und hätte nach den AKP-Statuten nicht ein viertes Mal Ministerpräsident werden dürfen. Mit Erdogans Wahlsieg dürften die Weichen für die Einführung eines Präsidialsystems gestellt und das Amt mit noch mehr Macht ausgestattet werden.
Als eines seiner Ziele hat Erdogan eine neue Verfassung angekündigt. Schon jetzt gibt die Verfassung dem Präsidenten erhebliche Macht. So sind beispielsweise seine Entscheidungen juristisch nicht anfechtbar.
Der scheidende Präsident Abdullah Gül kündigte an, sich nach der Amtsübergabe am 28. August wieder der AKP anzuschließen. Gül gehört wie Erdogan zu den AKP-Gründern.
Erdogan wird das zwölfte Staatsoberhaupt der Türkei. Als Präsident kann er nach fünf Jahren für eine weitere Amtszeit wiedergewählt werden. Erdogan hat mehrfach deutlich gemacht, dass er zum 100. Geburtstag der Republik 2023 noch in der Türkei herrschen will.
In der Türkei waren rund 53 Millionen Menschen zur Stimmabgabe aufgerufen. Erstmals hatten zusätzlich auch die 2,8 Millionen wahlberechtigte Auslandstürken die Möglichkeit, außerhalb der Türkei zu wählen, was aber nur wenige von ihnen nutzten. In Deutschland entfielen fast 69 Prozent der abgegebenen Stimmen auf Erdogan. Hier beteiligten sich jedoch lediglich 8,1 Prozent der Wahlberechtigten an der Abstimmung.