Asylrecht EU kämpft in Flüchtlingskrise um gemeinsame Werte
Brüssel (dpa) - In der größten Flüchtlingskrise seit dem Zweiten Weltkrieg ringen die EU-Staaten um einen gemeinsamen Kurs und die Verteidigung europäischer Grundprinzipien wie die Reisefreiheit.
Beim EU-Sondergipfel kündigte der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban in Brüssel die Schließung der Grenze seines Landes zum EU-Mitglied Kroatien an. Der Kurs Ungarns und anderer Staaten sorgte für heftige Reaktionen unter den EU-Partnern.
Der französische Staatspräsident François Hollande sagte, wer europäische Werte nicht teile, müsse sich fragen, ob er in der EU richtig aufgehoben sei. EU-Gipfelchef Donald Tusk sah europäische Errungenschaften in Gefahr: „Die Zukunft von Schengen steht auf dem Spiel.“ Das Schengen-System garantiert das Reisen ohne Grenzkontrollen zwischen 26 Staaten (22 EU-Staaten, Norwegen, Island, die Schweiz und Liechtenstein).
Damit sich weniger Bürgerkriegsflüchtlinge aus den Lagern rund um Syrien auf den Weg nach Europa machen, will die EU die Hilfe für die Region aufstocken. Mindestens eine Milliarde Euro sollen zusätzlich an das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen und andere Organisationen fließen. Das geht aus dem Entwurf der Abschlusserklärung des EU-Gipfels hervor, in den die Deutsche Presse-Agentur Einblick nehmen konnte. Ein Zeitraum wird in dem Text nicht genannt. Dem Welternährungsprogramm (World Food Programme - WFP) fehlt das Geld; die Organisation musste ihre Unterstützung für Flüchtlinge bereits kürzen.
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) forderte mehr außenpolitisches Engagement der EU. Auch sie habe die dramatische Lage in den Flüchtlingslagern in der Türkei und den anderen Nachbarstaaten Syriens unterschätzt. Hunger und Elend dort müssten effektiver bekämpft werden, forderte sie. Merkel kündigte mehr Hilfe für den EU-Beitrittskandidaten Türkei an, um Flüchtlingen dort zu helfen. „Zwei Millionen Flüchtlinge sind eine große Herausforderung für die Türkei, und wir müssen überlegen, wie wir ihr helfen können.“ Laut EU-Kommission sollen die Flüchtlings-Hilfen für Ankara auf eine Milliarde Euro aufgestockt werden.
Ungarn will sich mit dem Zaun an der Grenze zu Kroatien gegen den weiteren Andrang von Flüchtlinge abschotten. Da sich die Migranten dann andere Wege gen Norden suchen dürften, würde dies Länder wie Slowenien belasten. Orban sagte, da Griechenland die Schengen-Außengrenze nicht schützen könne, müsse Ungarn handeln. „Schengen verpflichtet uns dazu“, fügte Orban hinzu. Bereits vor acht Tagen hatte Ungarn seine Grenze zu Serbien mit einer Sperranlage für Flüchtlinge abgeriegelt.
Beim Gipfel zeigten sich Mitgliedsländer aus Mittel- und Osteuropa empört darüber, dass sie bei der Verteilung von 120 000 Flüchtlingen in Europa am Vortag überstimmt worden waren. Die Entscheidung fiel gegen die Stimmen von Ungarn, Tschechien, Slowakei und Rumänien.
EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker schloss Änderungen aus: „Der Beschluss steht.“ Der niederländische Regierungschef Mark Rutte sagte: „Das ist ein rechtlich bindender Beschluss, also müssen wir es am Ende machen.“ Die EU-Kommission kann rechtlich gegen Mitgliedstaaten vorgehen, die sich nicht an EU-Recht halten; solche Verfahren können vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) landen. Die Slowakei will gegen den EU-Beschluss klagen, kündigte der sozialdemokratische Regierungschef Robert Fico in Bratislava an. Tschechien will den Mehrheitsbeschluss akzeptieren.
Der liberale belgische Premier Charles Michel sprach sich für Sanktionen aus, falls der Beschluss der EU-Innenminister nicht in die Tat umgesetzt werde.
EU-Gipfelchef Tusk rief mit eindringlichen Worten dazu auf, an einem Strang zu ziehen. Wichtigste Aufgabe sei nun der Schutz der gemeinsamen Außengrenzen; Millionen Menschen aus Nahost könnten nach Europa strömen. Dazu sollen die EU-Grenzschutzagentur Frontex und die gemeinsame Polizeibehörde Europol gestärkt werden. „Die heutige Debatte muss sich auf Fakten gründen, nicht auf Illusionen und Emotionen“, sagte Tusk.
Die EU-Kommission setzte unmittelbar vor dem Spitzentreffen ein Zeichen: Sie eröffnete gegen Deutschland und 18 weitere Staaten Verfahren wegen Verstößen gegen das gemeinsame Asylrecht. Deutschland wird gerügt wegen unzureichender Umsetzung der EU-Richtlinien zu Mindestnormen bei Asylverfahren und zur Aufnahme von Asylbewerbern. Details nannte die Kommission auch auf Nachfrage nicht. Bereits in den vergangenen Monaten hatte sie 35 Verfahren wegen Verstößen gegen die Asylgesetze eingeleitet, nun kommen 40 neue hinzu.
Die Kommission schlug auch vor, Gelder, die vor allem zur Flüchtlingshilfe eingesetzt werden, im Vergleich zum Jahresbeginn auf 9,2 Milliarden Euro zu verdoppeln. Davon sollen auch Nicht-EU-Länder in der Nachbarschaft Syriens profitieren, zu denen neben der Türkei auch Jordanien und Libanon gehören.