Freizügigkeit: Wie der Osten ausgesaugt wird
Fachkräfte aus Polen zieht es in den Westen. Dort sind die Bedingungen besser als im eigenen Land.
Warschau. Donald Tusk gilt in europäischen Regierungszentralen als pflegeleicht. Der polnische Premier weiß gut, was sein Land dem EU-Beitritt vor zehn Jahren zu verdanken hat.
Er weiß gut von dem Geld, das als Strukturhilfe aus Brüssel fließt. „Die Mittel werden uns einen weiteren Zivilisationssprung ermöglichen“, sagte Tusk über den EU-Haushalt bis 2020.
Insofern kam es einer Revolution gleich, als Tusk seinen britischen Amtskollegen David Cameron öffentlich abkanzelte. Der Engländer habe sich „unangemessen“ über polnische Migranten geäußert.
Seit Wochen tobt in Europa ein West-Ost-Streit über die Freizügigkeit von Arbeitnehmern. In Deutschland hat die CSU mit der Parole „Wer betrügt, der fliegt“ Front gegen Bulgaren und Rumänen gemacht. Sie dürfen seit dem 1. Januar in der Bundesrepublik ohne gesonderte Genehmigung ihren Wohnsitz nehmen und arbeiten.
Das ist das Wesen der Freizügigkeit. Oder wollen sie nur Sozialleistungen kassieren? Das ist der Generalverdacht, unter dem Migranten aus Osteuropa im Westen stehen.
So hat es Cameron offen ausgesprochen. „Freizügigkeit ist nicht das Recht, sich die besten Sozialleistungen auszusuchen“, sagte er mit Blick auf die Million Polen, die nach der EU-Osterweiterung 2004 nach Großbritannien emigriert ist.
Die Fakten sagen etwas anderes. Hier ist vom Verlust im Osten die Rede — und vom Profit im Westen. „Braindrain“ nennen Wissenschaftler ein Phänomen, das mit dem Wort „Gehirnabfluss“ mehr sagt als Zahlen. Es sind die besten Köpfe des Ostens, die in den Westen migrieren. Die Rede ist von IT-Spezialisten, von Medizinern und Facharbeitern, aber auch von Pflegekräften.
Mehr als zwei Millionen Menschen hat Polen nach dem EU-Beitritt verloren. Sie sind in den Westen abgewandert. In Polen fehlt ihre Kraft. Und ihr Steuergeld. Tusk hatte schon 2007 ein Rückkehrprogramm aufgelegt, um der eigenen Wirtschaft neuen Schwung zu verleihen.
Doch alle Bemühungen scheiterten, weil polnische Ärzte und Mechaniker in Deutschland, Österreich oder der Schweiz das Drei- bis Fünffache dessen verdienen, was ihnen die eigenen Arbeitgeber bieten können.
Eklatant ist die Lage im Gesundheitssektor. Polen hat pro Kopf nur halb so viele Ärzte wie Deutschland. Jeder fünfte Mediziner ist bereits im Rentenalter und nur deshalb nicht im Ruhestand, weil der Nachwuchs fehlt. Kontrollen von Notfallzentren haben ergeben, dass jede dritte Praxis unterbesetzt ist. Stattdessen arbeiten osteuropäische Ärzte erfolgreich in Skandinavien.