Ukraine-Krieg Kiew peilt Verhandlungen Ende August an - Russisches Schiff versenkt
Kiew/Moskau · Für Zivilisten in der ostukrainischen Stadt Sjewjerodonezk wird die Situation immer brenzliger. Es gibt kaum noch Wege aus der Stadt. Unterdessen läuft eine Diskussion darüber, wie schnell die Ukraine den Weg zum EU-Mitglied beschreiten kann.
Die Ukraine stellt sich auf einen länger andauernden Abwehrkrieg gegen Russland ein. Erst Ende August, nach Gegenangriffen, will der ukrainische Chefunterhändler David Arachamija die Friedensverhandlungen mit Moskau wieder aufnehmen, wie er in einem am Samstag erschienenen Interview mit dem Sender Voice of America sagte. Dann werde sein Land eine bessere Verhandlungsposition haben. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj besuchte am Samstag eine Frontregion im Süden der Ukraine.
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sagte der Ukraine weitere Unterstützung mit Geld und Waffenlieferungen zu. Die Zivilisten in der schwer umkämpften ukrainischen Stadt Sjewjerodonezk sind nach einer Einschätzung des britischen Verteidigungsministeriums in einer schwierigen Situation. Aus der Stadt gebe es kaum noch Wege heraus. Unterdessen läuft in Europa eine Debatte darüber, wie schnell die Ukraine den Weg in die EU beschreiten kann. Die stellvertretende EU-Parlamentspräsidentin Katarina Barley (SPD) warnte vor zu viel Tempo.
Ukraine versenkt russisches Schiff
Russland hat durch Angriffe des ukrainischen Militärs erneut ein Schiff seiner Schwarzmeerflotte verloren. Der Schlepper „Wassili Bech“ sei von ukrainischen Raketen beschädigt worden. „Später wurde bekannt, dass er gesunken ist“, sagte der Militärgouverneur von Odessa, Maxym Martschenko, in einer Videoansprache auf seinem Telegram-Kanal. Eine Bestätigung von russischer oder unabhängiger Seite gibt es nicht. Den ukrainischen Angaben nach wurde das Schiff, das erst 2017 in Dienst gestellt und mit einem Luftabwehrsystem des Typs „Tor“ ausgestattet worden war, von Harpoon-Raketen getroffen. Die Schiffsabwehrraketen hatte Dänemark an die Ukraine geliefert.
Gefangengenommene US-Soldaten in russischen Medien
Zwei in der ukrainischen Armee kämpfende und von moskautreuen Truppen gefangen genommene US-Soldaten wurden in russischen Medien vorgeführt. Er habe der westlichen „Propaganda“ von den „schlechten Russen“ geglaubt und sei deswegen in den Krieg gezogen, rechtfertigte sich einer der Männer im Interview mit der kremlnahen Zeitung „Iswestija“, das das Blatt am Freitag auf seinem Telegram-Kanal zeigte. „In den westlichen Medien wird uns nicht gesagt, wie inkompetent und korrupt die ukrainische Armee ist“, sagte er.
Der zweite Gefangene trat beim Kremlsender RT auf. Er übermittelte nur einen Gruß an seine Mutter und sprach von der Hoffnung, nach Hause zurückkehren zu dürfen.
Debatte über EU-Perspektive für die Ukraine
Die Ukraine will möglichst schnell in die Europäische Union. Selenskyj betonte den Wert, den das auch für die EU hätte. „Unsere Annäherung an die Europäische Union ist nicht nur für uns positiv“, sagte er in seiner Videoansprache in Kiew. „Das ist der größte Beitrag zur Zukunft Europas seit vielen Jahren.“
Dagegen warnten die stellvertretende EU-Parlamentspräsidentin Barley und der CDU-Europapolitiker David McAllister vor zu viel Tempo und zu großen Erwartungen. „Überstürzte Beitritte darf es nicht geben. Wer einmal in der EU ist, kann nicht ausgeschlossen werden“, sagte Barley der „Neuen Osnabrücker Zeitung“. McAllister riet, die Ukraine zunächst näher an den Binnenmarkt heranzuführen - auf der Basis des bereits beschlossenen Assoziierungsabkommens. „Mitglied der Europäischen Union zu werden, erfordert viel Zeit, viel Kraft und viel Anstrengung“, sagte er dem Hörfunksender Bayern 2.
Bundeskanzler Scholz hatte sich am Freitag in einem auf Englisch geführten TV-Interview der Deutschen Presse-Agentur zuversichtlich gezeigt, dass die EU-Mitgliedstaaten eine gemeinsame Position zum Beitrittsgesuch der Ukraine finden werden. Die EU-Kommission hatte sich am Freitag dafür ausgesprochen, die Ukraine und Moldau offiziell zu Kandidaten für den Beitritt zur Europäischen Union zu ernennen. Die Staats- und Regierungschefs wollen bereits bei einem Gipfeltreffen Ende kommender Woche über das Thema beraten.
Straßenkampf und eingekesselte Zivilisten
In der erbittert umkämpften ostukrainische Stadt Sjewjerodonezk gibt es weiter Straßenkämpfe. Die Stadt und ihre Umgebung liege unter schwerem Artilleriefeuer, teilte der ukrainische Generalstab mit. Es sei unmöglich, die in Bunkern unter dem Chemiewerk Azot versteckten Zivilisten in Sicherheit zu bringen, sagte der Gouverneur von Luhansk, Serhij Hajdaj.
Nach Einschätzung des britischen Verteidigungsministeriums gibt es für Zivilisten angesichts zerstörter Brücken außer den von Russland und seinen Verbündeten einseitig ausgegebenen humanitären Korridoren kaum Wege, um aus der Stadt zu kommen. Andererseits habe Moskau schon in früheren Fällen in der Ukraine und auch in Syrien solche Korridore als Mittel missbraucht, um sich Vorteile auf dem Schlachtfeld zu verschaffen und Menschen zwangsweise umzusiedeln. In dem Chemiewerk Azot sollen noch ukrainische Soldaten und Hunderte Zivilisten ausharren.
Der britische Premierminister Boris Johnson befürwortet eine Austragung des nächsten Eurovision Song Contest (ESC) in der Ukraine. „Tatsache ist, dass sie ihn gewonnen haben, und sie verdienen es, ihn zu haben“, sagte Johnson. Er selbst habe sich bei einem kurzfristigen Besuch am Freitag in Kiew davon überzeugt, dass die Stadt schon sehr viel belebter sei als noch vor einigen Wochen, sagte der konservative Politiker. „Kiew oder eine andere sichere ukrainische Stadt wäre ein fantastischer Austragungsort“, so Johnson und fügte hinzu: „Es ist noch ein Jahr bis dahin, ein Jahr! Das wird okay sein.“
Mitte Mai hatte die ukrainische Gruppe Kalush Orchestra mit dem Lied „Stefania“ in Turin den 66. ESC gewonnen. Damit hatten die Ukrainer zum dritten Mal das Recht auf die Austragung im kommenden Jahr erlangt, schon 2005 und 2017 waren sie Gastgeber gewesen.
Doch wegen Sicherheitsbedenken hatte die Europäische Rundfunkunion (EBU) am Freitag verkündet, Gespräche mit der BBC in Großbritannien über die Austragung zu beginnen. Der Brite Sam Ryder hatte in Turin den zweiten Platz belegt.