Lage in der Ukraine gerät außer Kontrolle
Bei vier Bombenanschlägen werden 29 Menschen verletzt. Staatsmacht und Opposition beschuldigen sich gegenseitig.
Kiew/Berlin. Sirenen heulen, Schreie erfüllen die Luft. Zerborstenes Glas liegt in Blutlachen. Es sind Szenen, die Entsetzen schüren. An einer Straßenbahnhaltestelle, in einem Kino und auf zwei belebten Plätzen explodieren binnen weniger Minuten vier Bomben.
29 Verletzte zählt die ukrainische Polizei in Dniepropetowsk gestern. Zehn Schulkinder sind darunter. Ein Mädchen befindet sich in kritischem Zustand.
Sechs Wochen vor Beginn der Fußball-Europameisterschaft im Land hat der offene Terror die Ukraine erreicht. Es ist eine dramatische Eskalation der innenpolitischen Lage, die sich wegen der Inhaftierung von Julia Timoschenko seit Monaten immer weiter zuspitzt. Dnjepropetrowsk ist die Geburtsstadt der Oppositionsführerin.
Wer hinter der Anschlagsserie in der ostukrainischen Industriestadt steckt, ist unklar. „Das ist ein Anschlag auf das ganze Land“, sagt Präsident Viktor Janukowtisch und kündigt Vergeltung an: „Wir werden die richtige Antwort geben.“
Die Polizei spricht von professionell gefertigten Sprengsätzen. Sie seien „mit Metallteilen gespickt“ und in Mülleimern deponiert gewesen. Eine Spur zu den Tätern gibt es zunächst nicht. Ist die Staatsmacht selbst beteiligt, um drastische Gegenmaßnahmen einleiten zu können?
Oder wollen fanatische Timoschenko-Anhänger deren Erzfeind Janukowitsch weiter in Misskredit bringen und möglicherweise die Austragung der Fußball-EM verhindern? Der europäische Fußball-Verband Uefa wiegelt ab: „Es ist zu früh, etwas zu sagen.“ Man werde die Lage in der Ukraine „genau beobachten“.
Zweifel daran, dass die Ukraine die Sicherheit bei dem Turnier gewährleisten kann, gibt es seit langem. Im Januar 2011 explodierte im EM-Spielort Donezk eine Bombe. Die Polizei ist von Korruption zersetzt und sowjetisch geschult.
Zudem haben Experten in der Ukraine eine explosive Stimmung ausgemacht: Verheerende Wirtschaftskrise, Korruption und politischer Dauerstreit, der in eine Jagd auf die Opposition mündete. Der Politikwissenschaftler Sergej Gajdaj sagt: „Die Regierungsmacht bewegt sich im Kreis. Das führt zu einer revolutionären Situation.“
Die Bomben verdrängen sogar das Schicksal von Julia Timoschenko aus den Schlagzeilen. Dabei tritt etwa zur gleichen Zeit, als die Sprengsätze in Dniepropetrowsk explodieren, in Berlin der Chefarzt des Charité-Klinikums, Karl Max Einhäupl vor die Presse.
„Ich appelliere an den ukrainischen Präsidenten: Seien sie human und lassen Sie Frau Timoschenko ausreisen und in Deutschland behandeln.“ Timoschenko befindet sich zudem aus Protest gegen angebliche Misshandlungen im Hungerstreik.