Abstimmung May will Brexit-Abkommen nachverhandeln - Brüssel sagt Nein
London · Paukenschlag im britischen Parlament: Premierministerin May will das mühsam mit Brüssel vereinbarte Paket zum EU-Austritt wieder aufmachen. Das Unterhaus folgt dem mit knapper Mehrheit. Im Kern geht es um die schwierige Nordirland-Frage.
Streit ohne Ende zwischen London und Brüssel: Nur zwei Monate vor dem Brexit will die britische Premierministerin Theresa May das mit Brüssel ausgehandelte Abkommen wieder aufschnüren. Die unter enormen Druck stehende Regierungschefin warb am Dienstag im Londoner Parlament für ein Mandat der Abgeordneten, die schwierige Nordirland-Frage nachzuverhandeln.
Das britische Parlament stimmte am Dienstagabend mit knapper Mehrheit dafür, die Garantie einer offenen Grenze zwischen Irland und dem britischen Nordirland im Brexit-Deal neu zu verhandeln. Bislang hat sich die EU strikt gegen Nachverhandlungen des Deals ausgesprochen. Brüssel reagierte besorgt.
Die Europäische Union lehnt die Änderung des Brexit-Vertrags nach wie vor ab. Dies teilte ein Sprecher von EU-Ratspräsident Donald Tusk am Dienstagabend in Brüssel mit. Diese Linie sei mit den Hauptstädten der 27 bleibenden EU-Staaten abgestimmt.
Bei Abstimmungen über mehrere Änderungsanträge, wie es mit dem Brexit weitergehen soll, kam May am Abend mit einem blauen Auge davon. So wurde der Antrag des einflussreichen konservativen Hinterbänklers Graham Brady angenommen, dass die Garantieklausel für eine offene Grenze zwischen dem britischen Nordirland und dem EU-Mitglied Irland aus dem Brexit-Abkommen entfernt wird. An die Stelle des sogenannten Backstops sollen „alternative Regelungen“ treten.
May reagierte erleichtert. Der Backstop ist der größte Streitpunkt beim Brexit. Kritiker monieren, dass Großbritannien durch die Klausel dauerhaft eng an die Europäische Union gebunden bleiben könnte.
Ein hoch gehandelter Vorschlag der Labour-Abgeordneten Yvette Cooper, bei dem es um eine Verschiebung des EU-Austritts ging, wurde zu Mays Gunsten abgelehnt. Cooper wollte mehr Zeit für eine Einigung gewinnen. Ein vom Unterhaus angenommener Antrag, dass es keinen Brexit ohne Abkommen geben soll, hat rechtlich keine Bedeutung.
May rief den Abgeordneten zu: „Die Welt weiß, was dieses Haus nicht will. Heute müssen wir eine nachdrückliche Botschaft dazu senden, was wir wollen ... Ich will mit dem klarestmöglichen Mandat nach Brüssel zurückkehren.“
Nach der Ablehnung des Brexit-Deals bei der Abstimmung Mitte Januar müssten nun die Bedenken der Abgeordneten zum Nordirland-Backstop berücksichtigt werden, sagte May. Dazu sei „eine bedeutungsvolle und rechtlich bindende Veränderung am Austrittsabkommen“ notwendig.
May will den Abgeordneten schnellstmöglich einen geänderten Austrittsvertrag zur Abstimmung vorlegen. Sollte sie keinen Erfolg bei Nachverhandlungen mit der Europäischen Union zum Brexit haben, werde sie spätestens am 13. Februar vor dem Unterhaus eine Erklärung abgeben. Für den Tag darauf - also am 14. Februar - plane May eine Abstimmung zu ihrer Erklärung, teilte Downing Street mit.
Die Premierministerin sagte, es gebe im Parlament keine Mehrheit für eine Neuwahl oder eine zweite Volksabstimmung über den EU-Austritt des Landes. Zur deutlichen Niederlage im Parlament für das Austrittsabkommen, das sie mit der Europäischen Union ausgehandelt hatte, sagte May, sie habe diese Botschaft verstanden.
Hoffnung, dass sich doch noch eine Mehrheit im heillos zerstrittenen Unterhaus findet, machten Berichte über einen „Plan C“ für den EU-Austritt, den konservative Abgeordnete aus beiden Lagern in den vergangenen Tagen ausgearbeitet hatten. Der „Malthouse-Plan“ greift die Idee wieder auf, dass notwendige Grenzkontrollen an der nordirisch-irischen Grenze mit technologischen Mitteln durchgeführt werden sollen. Wie diese aussehen, konnte noch niemand erklären. Für den Fall eines „No Deal“ sieht der Plan vor, dass sich Großbritannien mit Beitragszahlungen an die EU eine Übergangsfrist erkauft.
Die EU besteht auf der Backstop-Klausel, weil eine Teilung der irischen Insel ein Wiederaufflammen der Gewalt in der ehemaligen Bürgerkriegsregion provozieren könnte. Doch ein großer Teil der Abgeordneten in Mays Konservativer Partei und die nordirisch-protestantische DUP, von der Mays Minderheitsregierung abhängt, lehnen die Regelung ab.
Der Backstop sieht vor, dass Großbritannien so lange in der Zollunion mit der EU bleibt, bis eine andere Lösung gefunden ist, außerdem sollen in Nordirland weiter einige Binnenmarktregeln gelten. Kritiker fürchten, diese Klausel könne Großbritannien dauerhaft an die Europäische Union binden. Die DUP lehnt jeglichen Sonderstatus für Nordirland ab. Alle EU-Institutionen haben bislang betont, dass das Austrittsabkommen nicht nachverhandelt werden kann - vor allem nicht der Backstop. Die Brexit-Fachleute im EU-Parlament schlossen zuletzt aus, ein Abkommen ohne „wetterfesten Backstop“ zu ratifizieren.
Die EU-Kommission hatte sich zunächst zu den diversen Lösungsansätzen im Unterhaus am Dienstag ausgeschwiegen. „Dies ist kein Brüssel-Tag, es ist ein London-Tag, und dann sehen wir weiter“, sagte Sprecher Margaritis Schinas. Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker sei in ständigem Kontakt mit London und stehe auch ständig bereit für Gespräche. Zum „Malthouse-Plan“ sagte Schinas: „Wir haben nichts bekommen, es ist nichts auf dem Tisch.“
Die mit Großbritannien vereinbarte Übergangsphase bis mindestens Ende 2020 sei mit dem Austrittsabkommen verknüpft, bekräftigte Schinas. In der geplanten Übergangszeit nach dem für den 29. März angekündigten britischen EU-Austritt soll sich für Bürger und Unternehmen zunächst nichts ändern. Damit sollen wirtschaftliche Turbulenzen kurz nach dem Brexit vermieden werden.
In dem Bürgerkrieg in Nordirland kämpften pro-irische Katholiken unter Führung der Untergrundorganisation IRA gegen protestantische, pro-britische Loyalisten. Im Kern ging es darum, ob der zu Großbritannien gehörende Nordteil Irlands mit der Republik im Süden vereinigt werden soll. In dem drei Jahrzehnte dauernden Konflikt, der 1998 mit dem Karfreitagsabkommen beendet wurde, starben mehr als 3600 Menschen. Mehr als 500 000 gelten in der Region als traumatisiert.