Nach Afghanistan-Wahlkrise werden alle Stimmen neu ausgezählt
Kabul (dpa) - In der Krise um die Präsidentenwahl in Afghanistan haben sich die Kontrahenten Abdullah Abdullah und Aschraf Ghani auf die Neuauszählung aller acht Millionen Stimmen geeinigt.
US-Außenminister John Kerry hatte zwei Tage lang zwischen den beiden Kandidaten in Kabul vermittelt und damit am Samstagabend den Durchbruch ermöglicht. „Jeder einzelne Stimmzettel, der abgegeben wurde, wird überprüft werden, 100 Prozent, alle acht Millionen“, sagte Kerry. Mit dem Kompromiss wurde ein Scheitern der ersten demokratischen Machtübergabe in Afghanistan zunächst abgewendet.
In dem Streit ging es um das vorläufige Ergebnis der Stichwahl um das Präsidentenamt. Ex-Finanzminister Ghani lag dabei deutlich vor dem früheren Außenminister Abdullah. Abdullah führte das auf „Wahlbetrug in industriellem Ausmaße“ zurück, akzeptierte das Ergebnis nicht und reklamierte den Sieg für sich. Abdullah hatte die erste Wahlrunde klar gewonnen. Besonders verdächtig war die unrealistisch hohe Beteiligung an der Stichwahl, die nach Angaben der Wahlkommission bei rund zwei Dritteln der Wahlberechtigten lag.
Der nun gefundene Kompromiss sieht vor, dass Abdullah und Ghani das Ergebnis einer Neuauszählung akzeptieren und danach eine „Regierung der nationalen Einheit“ bilden. „Beide Kandidaten haben zugesagt, die Ergebnisse der Überprüfung zu akzeptieren und dass der Wahlsieger als Präsident dienen und sofort eine Regierung der nationalen Einheit bilden wird“, sagte Kerry. Stimmzettel aus den Provinzen würden von der Internationalen Schutztruppe Isaf nach Kabul gebracht.
Ghani sagte: „Wir haben uns zu der gründlichsten Überprüfung in der Geschichte aller Wahlen verpflichtet.“ Er und Abdullah dankten Kerry für dessen Vermittlung.
Abdullah und Ghani riefen den scheidenden Präsidenten Hamid Karsai dazu auf, die für den 2. August geplante Amtsübergabe zu verschieben. Kerry sagte, die Neuauszählung der gut acht Millionen bei der Stichwahl abgegebenen Stimmen werde mehrere Wochen dauern. Der Chef der Wahlkommission, Jusuf Nuristani, sagte am Sonntagabend, 100 Teams würden 1000 Wahlurnen am Tag prüfen. „Wenn der Prozess wie geplant verläuft, wird die Überprüfung in drei Wochen fertig sein.“ Karsai begrüßte die Einigung, äußerte sich zunächst aber nicht zu einem neuen Termin für die Vereidigung seines Nachfolgers.
Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) erklärte, mit der Lösung sei „die Voraussetzung geschaffen, die historische Chance dieser Wahl für eine bessere Zukunft der Menschen in Afghanistan zu nutzen“. Er rief die Kandidaten dazu auf, an die Übereinkunft halten und diese „zügig und zuverlässig“ umsetzen. Die EU lobte die Kompromissbereitschaft beider Kandidaten und dankte Kerry sowie dem UN-Sondergesandten Jan Kubis für deren Engagement.
Kerry war am Freitag nach Kabul gereist, um im Streit um Betrugsvorwürfe bei der Stichwahl vom 14. Juni zu vermitteln. Nach seiner Ankunft warnte er vor einem Scheitern der Wahl. Er führte mehrere Gesprächsrunden mit Abdullah und Ghani sowie mit Präsident Karsai und dem UN-Sondergesandten Jan Kubis. US-Präsident Barack Obama hatte Abdullah und Ghani im Falle von Gewalt oder Verfassungsverstößen mit dem Ende der US-Hilfe gedroht.
Anhänger hatten Abdullah aufgefordert, eine Regierung auszurufen. Abdullah hatte sich Zeit bis nach dem Kerry-Besuch erbeten. In der Stichwahl gewann Ghani nach dem vorläufigen Ergebnis 56,44 Prozent der Stimmen. Abdullah kam trotz des Siegs in der ersten Wahlrunde - in der er die absolute Mehrheit verfehlte - nur noch auf 43,56 Prozent. Abdullah kritisierte danach ein „Dreieck des Betruges“ zwischen der Karsai-Regierung, der Wahlkommission und Ghanis Team.