Brexit-Krise Doppelte Niederlage für Johnson - Gesetz gegen No-Deal-Brexit kann in Kraft treten
London · Die Entscheidung, seine Gegner aus der Fraktion zu werfen, fällt Boris Johnson auf die Füße. Der Unmut über den britischen Premier und seinen Berater Dominic Cummings wächst. Beim Gesetz gegen den No-Deal-Brexit gibt die Regierung klein bei.
Nach mehreren Niederlagen Boris Johnsons bei Brexit-Abstimmungen im britischen Unterhaus wächst der Unmut über sein harsches Vorgehen gegen innerparteiliche Gegner. Johnson hatte vergeblich versucht, ein Gesetzesvorhaben im Unterhaus zu stoppen, das einen ungeregelten EU-Austritt Großbritanniens verhindern soll. Da am Mittwoch auch ein Antrag Johnsons auf eine Neuwahl abgelehnt wurde, verlor seine Regierung binnen nur zwei Tagen insgesamt vier Abstimmungen.
Der Gesetzentwurf soll bis Freitagabend auch von den Lords im Oberhaus gebilligt werden. Dort versuchten Brexit-Hardliner mit einer Flut von Anträgen und Dauerreden am Mittwoch zunächst das Gesetz zu stoppen. Doch am frühen Donnerstagmorgen gaben sie nach: Regierung und Opposition einigten sich darauf, die Debatte nicht ins Wochenende hineinzuschleppen. Das Gesetz, das einen Brexit ohne Abkommen verhindern soll, scheint damit so gut wie sicher rechtzeitig vor der Zwangspause des Parlaments in Kraft treten zu können.
Was den Sinneswandel bei der Regierung ausgelöst hat, war zunächst unklar. Nach der ersten Abstimmungsniederlage hatte Johnson 21 Tory-Rebellen aus der Fraktion geworfen, die gegen die eigene Regierung gestimmt hatten. Darunter so prominente Mitglieder wie den Alterspräsidenten und ehemaligen Schatzkanzler Ken Clarke und den Enkel des Kriegspremiers Winston Churchill, Nicholas Soames.
Die gemäßigte One-Nation-Gruppe in der Tory-Fraktion veröffentlichte eine Erklärung, in der sie Johnson dazu aufforderten, die verbannten Fraktionsmitglieder wieder aufzunehmen. „Die Maßnahmen in den vergangenen Tagen, die Fraktion von gemäßigten Mitgliedern zu säubern, sind prinzipiell falsch und schlechte politische Praxis“, hieß es in dem Schreiben. Medienberichten zufolge droht die Stimmung selbst in Johnsons Kabinett zu kippen.
Der Regierungschef verteidigte sein Vorgehen in einem Interview mit dem britischen TV-Sender itv am Mittwochabend. „Das sind meine Freunde, glauben Sie mir, ich habe absolut kein Vergnügen an all dem.“ Es sei aber „sehr traurig und überraschend“ gewesen, dass sie sich entschieden hätten, Großbritanniens Chancen auf einen Deal mit der Europäischen Union zu schmälern.
Johnson will Brüssel mit der Drohung eines ungeregelten EU-Austritts zu Zugeständnissen bringen. Seine Kritiker warnen dagegen vor erheblichen Folgen vor allem für die britische Wirtschaft und viele weitere Lebensbereiche, wenn das Land ohne Übergangsfristen aus der Staatengemeinschaft herausbricht.
Hinter der harten Vorgehensweise Johnsons sehen viele den Einfluss seines Beraters Dominic Cummings. Der Wahlkampfstratege leitete bereits die Kampagne Johnsons beim Brexit-Referendum 2016. Cummings gilt als skrupellos und macht keinen Hehl daraus, dass er das politische System gehörig umkrempeln will.
Das Gesetz gegen den ungeregelten EU-Austritt soll Johnson dazu zwingen, eine dreimonatige Verlängerung der am 31. Oktober auslaufenden Brexit-Frist zu beantragen, falls bis zum 19. Oktober kein Abkommen mit der EU ratifiziert ist.
Die No-Deal-Gegner hatten unter enormem Zeitdruck gestanden, weil Johnson dem Parlament eine Zwangspause auferlegt hat, die bereits am Montag beginnen könnte. Der Versuch, die Schließung des Parlaments gerichtlich zu stoppen, scheiterte bislang. Ein Gericht in Schottland wies die Klage einer Gruppe von Parlamentariern am Mittwoch ab mit der Begründung, es handle sich nicht um eine juristische, sondern eine politische Frage. Doch bereits am Donnerstag sollte es eine Anhörung vor dem Berufungsgericht in Edinburgh geben. Auch der High Court in London wollte sich am Donnerstag mit dem gleichen Thema befassen.
Mit Spannung wird erwartet, ob der Premierminister am Montag einen weiteren Versuch unternimmt, eine Parlamentswahl herbeizuführen. Oppositionsführer Jeremy Corbyn von der Labour-Partei kündigte an, er werde einer Neuwahl erst zustimmen, wenn das Gesetz gegen den No Deal in Kraft getreten ist. Diese Bedingung wäre theoretisch am Montag erfüllt.
Johnson zeigte sich am Mittwoch pessimistisch, noch einen Austrittsdeal mit der EU vereinbaren zu können. Die Chancen, einen Deal in Brüssel zum Brexit zu bekommen, seien „schwer beschädigt, wenn nicht komplett zugrunde gerichtet worden“ durch den Gesetzentwurf gegen den No Deal, so der Regierungschef.
Johnson fordert Änderungen am EU-Austrittsvertrag. Die EU-Seite steht auf dem Standpunkt, dass sie gesprächsbereit ist, falls Johnson konkrete neue Vorschläge machen sollte. Dabei geht es um Alternativen zu der Garantieklausel für eine offene Grenze in Irland, zum sogenannten Backstop. Noch wartet die EU-Kommission aber auf die Vorschläge aus London.
Wie die EU im Falle eines ungeregelten Brexits Kontrollen an der irischen Grenze vermeiden will, ist nach wie vor unklar. Die im Austrittsabkommen vorgesehene Backstop-Lösung sei dafür die „einzige Option, die gefunden wurde“, erklärte die Kommission. Bei einem Austritt ohne Vertrag wäre diese aber hinfällig.
Johnson will nun am 15. Oktober wählen lassen, um mit einem Mandat beim EU-Gipfel zwei Tage später zu erscheinen. EU-Diplomaten schätzen die Chancen für einen spontanen Brexit-Deal bei dem Gipfel jedoch ebenfalls als gering ein. „Die Annahme, dass in nur wenigen Tagen ein Vorschlag gemacht, verhandelt, vom Gipfel unterstützt sowie vom Europaparlament und dem britischen Parlament ratifiziert werden könnte, scheint eine eher heldenhafte Annahme, um es vorsichtig auszudrücken“, hieß es aus EU-Kreisen.