Proteste bedrohen Revolution in Tunesien
Radikale islamistische Kräfte werden stärker.
Tunis. Brennende Barrikaden aus Ästen und Autoreifen lodern auf den Straßen der tunesischen Kleinstadt Siliana. Ein Steinhagel fliegt Richtung Polizei. Die Beamten verschanzen sich hinter gepanzerten Fahrzeugen, schießen mit Tränengas, Gummikugeln und Schrotflinten zurück. Feuern zur Abschreckung mit Maschinenpistolen in die Luft.
Seit Beginn der neuen Protestwelle Ende November wurden bereits Hunderte Menschen verletzt, darunter befinden sich etliche Schwerverletzte. Mindestens 15 Demonstranten sollen durch Schrotgeschosse ihr Augenlicht verloren haben. Die Vereinten Nationen kritisierten die „exzessive Gewaltanwendung“ der Sicherheitskräfte.
Die Menschen der Stadt mit rund 25 000 Einwohnern protestieren seit Tagen gegen Armut, Arbeitslosigkeit und Unterentwicklung in ihrem Ort, der rund 130 Kilometer südwestlich der Hauptstadt Tunis liegt.
Sie beklagen, dass sich die Lage auch nach der Revolution Anfang 2011 und dem Ende der Diktatur von Zine el Abidine Ben Ali nicht gebessert hat und dass die Not unter der von Islamisten geführten Übergangsregierung sogar noch größer geworden sei. „Haut ab“, skandieren die Menschen vor den Regierungsgebäuden. Mit diesem Schlachtruf war damals auch Ben Ali vertrieben worden.
Am Wochenende kam der islamistische Regierungschef Hamadi Jebali den Demonstranten entgegen und entließ den Gouverneur der Region Siliana. Doch dies half wenig. Proteste und Straßenschlachten mit Polizei sowie Militär gingen weiter, griffen auch auf umliegende Orte über.
Die Lage ist so explosiv, dass Staatspräsident Moncef Marzouki vor einem neuen Flächenbrand warnte. „Ich habe Angst“, sagte Marzouki, „dass sich die Proteste auf andere Regionen ausbreiten und die Zukunft der Revolution bedrohen könnten.“ Er forderte die Wahl einer neuen „kompetenten Regierung“.
2013 soll auf der Basis einer neuen Verfassung eine definitive Regierung gewählt werden. Sorgen bereitet dabei, dass auch in Tunesien radikale islamistische Kräfte wachsen. Sehr große soziale Ungleichgewichte sind Wasser auf die Mühlen fundamentalistischer Prediger. Die offizielle Arbeitslosenquote liegt bei knapp 20 Prozent.