Sicherheitslage neu bewertet Regierung schiebt weiter eingeschränkt nach Afghanistan ab
Berlin (dpa) - Trotz der angespannten Sicherheitslage in Afghanistan will die Bundesregierung weiter abgelehnte Asylbewerber in das Land zurückschicken - in begrenzter Zahl.
Damit bleibt es vorerst bei dem Kurs, den Bund und Länder nach dem schweren Anschlag auf die deutsche Botschaft in Kabul eingeschlagen hatten. Das teilten das Außenamt und das Bundesinnenministerium mit. Zurückgeschickt werden sollen also weiter Straftäter und „Gefährder“ - Menschen, denen die Sicherheitsbehörden einen Terrorakt zutrauen - und jene, die „hartnäckig ihre Mitarbeit an der Identitätsfeststellung“ verweigern.
Die Lage in Afghanistan ist seit langem besorgniserregend. Der Konflikt mit den Taliban hat sich verschärft, sie kontrollieren eine wachsende Zahl von Bezirken. Die Zahl ziviler Opfer steigt jedes Jahr. Immer wieder erschüttern Anschläge das Land.
Die Explosion einer Lastwagenbombe in unmittelbarer Nähe der deutschen Botschaft in Kabul hatte Ende Mai mindestens 150 Menschen getötet, Hunderte verletzt und schweren Schaden auf dem Gelände der Botschaft angerichtet. Diese ist seitdem nur eingeschränkt arbeitsfähig. Bis auf den Botschafter verließen fast alle Mitarbeiter das Land. Laut Außenamt soll bald ein „Kernteam“ nach Kabul zurückkehren.
Nach dem Anschlag hatten Bund und Länder die Abschiebungen nach Afghanistan auf die drei Gruppen beschränkt - bis zur Vorlage einer Neubewertung der Sicherheitslage. Ein Sprecher des Außenministeriums sagte, es liege nun ein Zwischenbericht zur Lagebewertung vor. Darin gebe es keine durchgreifenden Anhaltspunkte, dass die bisherige Haltung korrigiert werden müsste. Der vertrauliche Bericht sei an die Länder und an zuständige Behörden gegangen. Auf dieser Grundlage könnten nun Afghanen aus den drei Gruppen abgeschoben werden. Ob es dazu komme, liege in der Entscheidung der Länder.
Tatsächlich gab es seit dem Kabuler Anschlag trotz mehrerer Anläufe keinen Abschiebeflug mehr. Als Grund wurden organisatorische Probleme genannt, weil sich die Botschaft in Kabul nicht um die Abwicklung vor Ort und die Ankunft der Betroffenen kümmern konnte. Der Außenamtssprecher sagte, man bemühe sich, eine bessere Handlungsfähigkeit der Botschaft in Kabul herzustellen.
Und was bedeutet der neue Lagebericht für die Entscheidungspraxis bei afghanischen Asylbewerbern? Zuletzt hatte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) über Asylanträge von Afghanen nur in Ausnahmefällen entschieden. Die große Masse an Verfahren bearbeitete das Amt zwar weiter, wartete bis zur Asylentscheidung aber auf die neue Lagebewertung. Der Sprecher des Innenressorts sagte, das BAMF werde nun klären, ob der Zwischenbericht aus dem Außenamt eine hinreichende Grundlage für Asylentscheidungen sei.
Im vergangenen Jahr hatte Deutschland laut Innenministerium 324 Afghanen zwangsweise in ihre Heimat zurückgeschickt. In der ersten Jahreshälfte 2017 waren es 261. Ein Sprecher des Ressorts sagte, auch die freiwillige Rückkehr nach Afghanistan solle nun weiter gefördert werden. Zuletzt ging diese Zahl angesichts der schlechten Sicherheitslage jedoch zurück. 2016 kehrten gut 3300 Afghanen aus freien Stücken über ein staatliches Förderprogramm in ihre Heimat zurück. Im ersten Halbjahr 2017 waren es weniger als 800.
Insgesamt leben rund 250 000 Afghanen in Deutschland. Darunter sind derzeit etwa 5000, die „ausreisepflichtig“ sind und auch keine Duldung haben. Insgesamt sind rund 15 000 Afghanen zur Ausreise verpflichtet, etwa 10 000 sind jedoch geduldet in Deutschland - und damit zumindest vorübergehend vor einer Abschiebung bewahrt.
Oppositionspolitiker und Flüchtlingsorganisationen fordern seit langem den kompletten Stopp aller Abschiebungen nach Afghanistan. Sie kritisieren auch die Begrenzung auf die drei Personengruppen als fragwürdig und warnen vor einer sehr weiten Auslegung. Zum Beispiel sei völlig unklar, ob jemand auch wegen kleinster Delikte als Straftäter gelte und so für eine Abschiebung infrage komme - und ab wann jemandem vorzuwerfen sei, er sträube sich bei der Identitätsfeststellung. Auch die SPD spricht sich in ihrem Wahlprogramm generell gegen Abschiebungen nach Afghanistan aus.