Parlament in Zwangspause Schicksalswoche: Wie es im Brexit-Streit weitergehen kann
London · Nach der Entscheidung Boris Johnsons, das britische Parlament in eine Zwangspause zu schicken, kämpfen die Gegner eines No-Deal-Brexits gegen die Zeit. Was könnte als nächstes passieren?
Im Schatten von Big Ben rüsten sich die Regierung von Boris Johnson und die Gegner eines No-Deal-Brexits für eine der erbittertsten parlamentarischen Auseinandersetzungen der jüngeren Vergangenheit. Gesetzgebung, Misstrauensvotum oder Klage vor Gericht. Johnsons Gegner haben noch mehrere Optionen, wenn an diesem Dienstag das Parlament aus der Sommerpause zurückkehrt. Johnsons selbst hat am Montagabend nach einer außerordentlichen Kabinettssitzung einer erneuten Brexit-Verschiebung eine klare Absage erteilt - und sich gegen eine Neuwahl ausgesprochen. Doch aus Regierungskreisen verlautet es, er werde genau das herbeiführen, sollten sich die Rebellen durchsetzen.
GESETZ GEGEN NO-DEAL
Die Opposition und eine Reihe von Rebellen in den Reihen der Konservativen wollen den Premierminister per Gesetz dazu zwingen, in Brüssel eine erneute Verschiebung des Brexit-Datums am 31. Oktober zu beantragen, sollte es nicht zu einem Deal mit der EU kommen. Im Gespräch ist eine Frist von drei Monaten bis Ende Januar 2020. Auf die Unterstützung von Parlamentspräsident John Bercow können sich die No-Deal-Gegner dabei wohl verlassen. Er hat schon einmal ein ähnliches Gesetzgebungsverfahren von den Hinterbänken zugelassen.
Die größte Schwierigkeit dürfte die knappe Zeit darstellen, die den Abgeordneten vor der von Johnson erwirkten Zwangspause bleibt. Schon am kommenden Montag könnte das Parlament für mehrere Wochen seine Tore schließen - ein nicht abgeschlossenes Gesetzgebungsverfahren würde dann einfach verfallen. Die meisten Fallstricke lauern im Oberhaus. Dort drohen Brexit-Hardliner mit einer Flut von Anträgen und Dauerreden (Filibuster), wertvolle Zeit zu verschwenden.
Wenn nötig, wollen die Parlamentarier daher auch bis spät in die Nacht und ins Wochenende hinein tagen. Selbst die Idee, Johnson könnte 100 neue Lords ins Oberhaus berufen, um dort die Mehrheitsverhältnisse zu ändern, wurde ernsthaft diskutiert - der Präsident des Oberhauses, Norman Fowler, zeigte sich empört. „Nichts könnte schlimmer sein“, twitterte er.
Doch selbst wenn das Gesetz rechtzeitig verabschiedet werden kann, gibt es Zweifel, ob die Regierung nicht einen Weg finden wird, es zu umgehen. Der am Montagabend vorgelegte Gesetzentwurf macht daher sehr genaue Vorgaben, bis hin zum Wortlaut des Antragsbriefs an EU-Ratspräsident Donald Tusk. Spekuliert wurde jedoch auch, ob die Regierung sich weigern könnte, das Gesetz Königin Elizabeth II. zur Unterschrift vorzulegen. Das wäre jedoch ein noch gewagterer Bruch von Konventionen als die lange Zwangspause des Parlaments.
MISSTRAUENSVOTUM
Als Ultima Ratio bliebe den Rebellen, Johnson per Misstrauensvotum zu stürzen. Fraglich ist jedoch, ob sich dafür eine Mehrheit finden würde. Es gilt als nicht ausgeschlossen, dass der Premierminister Schützenhilfe aus den Reihen der beinharten Brexiteers in der Labour-Partei bekommen würde. Die Zahl der Tories, die bereit wären, ihre eigene Regierung aus dem Amt zu jagen, dürfte überschaubar bleiben.
Wäre ein Misstrauensvotum erfolgreich, müssten die Abgeordneten innerhalb von zwei Woche einen Übergangspremier bestimmen, ansonsten käme es zu einer Neuwahl, deren Termin Johnson theoretisch auf ein Datum nach dem EU-Austritt legen könnte. Oppositionschef Jeremy Corbyn von der Labour-Partei hatte sich bereits als Interims-Regierungschef angeboten, doch er gilt als zu umstritten. Als Alternative käme beispielsweise Alterspräsident Ken Clarke infrage. Sollte Johnson noch vor dem Zwangsurlaub des Parlaments eine Vertrauensabstimmung im Unterhaus verlieren, würde sich die Zwei-Wochen-Frist auf die Zeit bis zur Schließung des Parlaments verkürzen.
NEUWAHL
Der einzige andere Weg zu einer Neuwahl führt über eine Zweidrittelmehrheit im Parlament. Obwohl sich Johnson am Montagabend klar gegen eine Neuwahl aussprach, wird spekuliert, dass er selbst einen baldige Urnengang anstreben könnte. Die Opposition dürfte sich dabei jedoch kaum auf einen Termin nach dem EU-Austritt einlassen. Dass sich Johnson längst im Wahlkampfmodus befindet, ist kein Geheimnis. Kaum ein Tag vergeht, an dem er nicht milliardenschwere Versprechen macht, für die Polizei, den nationalen Gesundheitsdienst, Schulen - alle sollen mehr Geld bekommen - nur woher, das weiß keiner so genau.
Auch eine Drohung an die Rebellen in der eigenen Partei deutet auf eine Wahl hin: Johnson will alle Tory-Abgeordneten, die für ein Gesetz gegen den No Deal stimmen, aus der Fraktion ausschließen. Für eine Regierung, die nur über eine Mehrheit von einer einzigen Stimme verfügt, scheint das ein gewagtes Vorhaben zu sein.
Hat es Johnson auf eine Wahl noch vor dem 31. Oktober abgesehen, müsste er das Parlament vor der Zwangspause um ein entsprechendes Mandat bitten. Der spätestmögliche Termin dafür wäre der 12. September. Gewählt wird in Großbritannien traditionell am Donnerstag. Als Wahltermine kämen angesichts der einzuhaltenden Fristen daher noch der 10., 17. und 24. Oktober infrage.
Fraglich ist aber, ob Johnson an einer Wahl vor dem Brexit-Termin gelegen sein kann. Jüngsten Umfragen zufolge könnte er zwar derzeit auf einen Wahlsieg hoffen, doch die Teilnahme der Brexit-Partei von Nigel Farage würde eine satte Mehrheit unerreichbar machen. Farage zufolge ist der No Deal der einzige akzeptable Deal. „Wenn Sie auf ein Austrittsabkommen bestehen, werden wir um jedes Mandat in jedem Winkel des Vereinigten Königreichs mit Ihnen kämpfen“, kündigte der Chef der Brexit-Partei vor wenigen Tagen bei einem Auftritt vor Parteimitgliedern in London an.
GANG VOR GERICHT
Möglich ist auch, dass der Streit zumindest teilweise im Gerichtssaal entschieden wird. Vor mehreren Gerichten in Großbritannien sind Klagen gegen die Zwangspause des Parlaments eingereicht worden. Vor dem obersten schottischen Gericht in Edinburgh soll es am Dienstag eine Anhörung geben. Der Londoner High Court will sich am Donnerstag mit der Sache beschäftigen. Auch beim High Court in Belfast ist ein ähnlicher Fall anhängig.
Letztinstanzlich dürfte die Sache vor dem Supreme Court landen. Was dabei herauskommen wird, ist jedoch längst keine ausgemachte Sache. Weil es in Großbritannien keine geschriebene Verfassung gibt, ist eine abschließende juristische Beurteilung oft schwierig. Es ist gut möglich, dass die Richter am Ende den Ball wieder ans Parlament zurückspielen. Sollte sich die Regierung - wie angedroht - weigern, ein Gesetz gegen einen No-Deal-Brexit zu befolgen, könnte auch dieser Streit vor Gericht landen.