Schweigender Protest in Türkei
Istanbul/Genf (dpa) - Nach fast drei Wochen heftiger Zusammenstöße setzen türkische Demonstranten nun auf stillen Protest. Ein türkischer Choreograph, der als „Stehender Mann“ stundenlang auf dem Taksim-Platz verharrte, fand am Dienstag viele Nachahmer.
Unterdessen setzte die Regierung trotz einer leichten Entspannung bei den Protesten weiter auf Repression. Anti-Terror-Einheiten nahmen mindestens 85 Gesuchte fest, wie türkische Medien berichteten.
Die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Navi Pillay, forderte die Türkei auf, exzessive Polizeigewalt gegen Demonstranten zu unterbinden. Die Regierung in Ankara sei verantwortlich dafür, dass Sicherheitsleute jederzeit die international anerkannten Menschenrechte respektierten. Wer dagegen verstoße, müsse zur Verantwortung gezogen werden, forderte Pillay in Genf. „Ich fordere die Regierung auf, friedliche Protestaktionen zu erlauben und zu beschützen.“
Die Berichte über den Protest des stehenden Mannes (türkisch: duran adam), der stundenlang auf dem Taksim-Platz stand und in Richtung eines Porträts des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk starrte, hatten sich über den Kurznachrichtendienst Twitter (Hashtag #duranadam) verbreitet.
Wie Aktivisten über soziale Netzwerke mitteilten, gab es auf dem zentralen Taksim-Platz Festnahmen, als sich Dutzende Gegner der islamisch-konservativen Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan dem stillen Protest des einzelnen Demonstranten anschlossen. Andernorts in Istanbul habe die Polizei erneut Tränengas gegen Demonstranten eingesetzt. Auch aus der Hauptstadt Ankara wurden wieder Zusammenstöße gemeldet.
Nach wochenlangen Auseinandersetzungen zwischen regierungskritischen Demonstranten und der türkischen Polizei war die Nacht zum Dienstag in Istanbul vergleichsweise ruhig.
Am frühen Morgen begannen Anti-Terror-Einheiten damit, Wohnungen in Ankara, Istanbul und der angrenzenden Provinz Kocaeli zu durchsuchen. Den Festgenommenen werde vorgeworfen, in die Proteste gegen die Regierung verwickelt und für Gewalt gegen Polizisten verantwortlich zu sein, hieß es in Medienberichten.
Regierung und Behörden hatten in den vergangenen Tagen erklärt, es sei bekannt, wer die Demonstrationen mitorganisiert und unterstützt habe. Sie müssten mit Strafen rechnen. Es seien Metallkugeln und Material für den Bau von Brandsätzen gefunden worden.
Die landesweite Protestwelle hatte sich an der brutalen Räumung eines Protestlagers im Gezi-Park in unmittelbarer Nachbarschaft des Taksim-Platzes entzündet, das am Wochenende zum zweiten Mal geräumt wurde. Die Regierung plant dort den Nachbau einer osmanischen Kaserne mit Wohnungen, Geschäften oder einem Museum. Inzwischen richten sich die Demonstrationen aber vor allem gegen den autoritären Regierungsstil Erdogans.
Bundesaußenminister Guido Westerwelle (FDP) kritisierte erneut das gewaltsame Vorgehen türkischer Sicherheitskräfte. Demonstrationen seien ein Zeichen der Reife von Zivilgesellschaften, sagte er beim „Global Media Forum“ der Deutschen Welle in Bonn. Wenn die Zivilgesellschaft Meinungsfreiheit und Versammlungsfreiheit für sich in Anspruch nehme, sollte sich jeder Demokrat darüber freuen und sich nicht davor fürchten. Nur freie Gesellschaften brächten die nötige Kreativität hervor, um in Zeiten der Globalisierung kulturell, intellektuell, gesellschaftlich und auch wirtschaftlich erfolgreich zu sein.