Verdrängte Angst in Frankreichs Atomdorf Flamanville
Im idyllischen Dorf Flamanville in der Normandie wird derzeit einer der beiden EPR-Atomreaktoren gebaut. Auf der Baustelle herrscht seit der Katastrophe in Fukushima Betroffenheit. In Frankreich könnte dies eine öffentliche Atomdebatte auslösen, die bislang vermieden wurde.
Flamanville (dpa). Eduardo Gilles hat den besten Überblick über den Atomreaktor der Zukunft: Er ist Kranführer auf der Baustelle des EPR-Reaktors im französischen Flamanville. Dort sind die höchsten Baukräne der Welt im Einsatz, gut 90 Meter hoch. „Die Höhe macht mir keine Angst, ich mache den Job ja schon seit 30 Jahren“, sagt der Portugiese, der eine Goldkette mit Kruzifix um den Hals trägt.
Angst macht es ihm eher, an einem Atomkraftwerk mitzubauen - direkt neben zwei laufenden Reaktoren. „Das ist keine normale Baustelle. Es ist das erste und das letzte Mal, dass ich so etwas mache“, sagt er. Wie viele andere Bauarbeiter der EPR-Baustelle haust er in einem Wohnwagen auf dem Campingplatz von Flamanville.
Gerade ist er von der Frühschicht heimgekommen, eine Packung Schnitzel im Sonderangebot und eine Flasche Cola unter dem Arm. Sein Vorzelt ist mit Klebeband geflickt, über eine rostige Satellitenschüssel bekommt er Fernsehen. Seit Tagen schaut er nur noch Sendungen über die Atomkatastrophe in Japan. „Klar haben die Menschen hier jetzt auch Angst“, meint er. Von Atomangst ist in dem idyllischen Normandie-Dörfchen zunächst nichts zu spüren. Im Gegenteil. Vom Barbesitzer über die Apothekerin bis hin zum Blumenverkäufer auf dem kleinen Wochenmarkt zeigen sich alle zuversichtlich.
„Bei uns kann so etwas nicht passieren. Unsere Atomkraftwerke sind sicher“, sagt Jacques Moreau, der mit seiner Frau das Café des Sports betreibt. Eine dicke Bulldogge liegt vor dem Fernseher, auf dem statt explodierender Reaktoren George Clooney und eine Blondine auf einer Jacht zu sehen sind. Auf dem Tisch aus falschem Marmor liegt die Lokalausgabe von „La Presse de la Manche“. „Die Produktion von Energie ist immer riskant“, heißt es im Kommentar auf Seite eins. Um Öl würden sogar Kriege geführt.
Eine Volksabstimmung über die Zukunft der Nuklearenergie, wie die französischen Grünen sie fordern, wäre Unsinn. „Damit würde man auf der Welle der Emotionen schwimmen. Es wäre, als ob man am Tag nach einem besonders grausamen Verbrechen über die Todesstrafe abstimmen ließe“, heißt es dort. Das Örtchen mit seinen gerade mal 1800 Einwohnern hat von der Atomkraft eindeutig profitiert. Die Steuern des Kraftwerkbetreibers machen einen großen Teil des Gemeindehaushalts aus. Alle paar Meter stehen Straßenlaternen, die Bushaltestellen sind aus Naturstein, die Bürgersteige zweifarbig gepflastert, es gibt eine Musikschule, ein Altenheim und eine ganze Menge Blumenkästen.
Aber das scheinbar unbegrenzte Vertrauen in die Atomenergie hat zu bröckeln begonnen. Die Apothekerin berichtet, dass jeden Tag zwei, drei Leute nach Jodtabletten fragen. Der Blumenverkäufer, der gerade noch behauptet hat, dass er sich keinerlei Sorgen über die Sicherheit der Atomkraftwerke macht, runzelt plötzlich die Stirn und meint: „Die Regierung sagt uns sicher nicht alles. Aber was sollen wir machen?“ Dann räumt er seine Stiefmütterchen in den Lieferwagen und meint: „Wir haben ja doch keine Wahl.“
Die beiden Reaktoren und die EPR-Baustelle beherrschen zwar das Leben in Flamanville, sind aber für diejenigen, die nicht dort arbeiten, gar nicht zu sehen. Um sie zu bauen, wurden Ende der 70er Jahre etwa 700 000 Kubikmeter Granitfelsen von der Steilküste am Ärmelkanal weggesprengt. Auf das verbliebene Felsplateau kam eine dicke Betonschicht, und das ganze Gelände wurde weiträumig mit Stacheldrahtzäunen abgesperrt.
Heute sind die beiden Betonzylinder mit ihren flachen Kuppeln und die Umfassungsmauer des EPR-Rohbaus nur vom Meer zu sehen - oder wenn man Zugang zum Gelände bekommt. Auf der Uferstraße, die zur Baustelle führt, herrscht reger Verkehr. Busse bringen Arbeiter herbei, Lastwagen liefern Baumaterial. Kaum einer hat einen Blick für die kleine Steinstele, die an der Uferböschung steht. Eine Schale mit lila blühendem Heidekraut schmückt sie. „Für die unbekannten Strahlenopfer“, ist in den Stein gemeißelt. Atomgegner haben sie ursprünglich zum Gedenken an Tschernobyl aufgestellt. Wenige Tage nach der Atomkatastrophe in Fukushima trafen eine Handvoll von ihnen dort zusammen, um gegen die französische Atompolitik zu protestieren.
„Ich war früher mal in Fukushima, und ich kenne auch Gorleben und Wackersdorf“, erzählt Didier Anger, der zum Urgestein der französischen Anti-Atombewegung zählt. Der 72-Jährige hofft, dass die Katastrophe in Japan die Menschen in Frankreich endlich aufrüttelt und der breite gesellschaftliche Atomkonsens zu bröckeln beginnt. „Ursprünglich war die Atomenergie nur ein Nebenprodukt der Atombombe“, sagt der pensionierte Lehrer und holt zu einem weitschweifigen Vortrag über die Geschichte der französischen Atomkraft aus. Wie General Charles de Gaulle mit der Atombombe auf militärische Unabhängigkeit gesetzt hat.
Wie seine Nachfolger mit den Atomkraftwerken die Energie-Unabhängigkeit erreichen wollten. Und wie Nicolas Sarkozy auf den Exporterfolg hoffte und Atomkraftwerke in alle Welt verkaufen wollte. Kreischende Möwen flitzen über dem Hafen, Jollen mit roten Segeln schaukeln auf den Wellen. „Sarkozy wollte sogar Muammar al-Gaddafi ein Atomkraftwerk verkaufen“, sagt Anger und lacht bitter. China, die USA, Großbritannien und mehrere arabische Länder zählen ebenfalls zu den tatsächlichen oder potenziellen Kunden. Heute ist die Normandie das Herzland der französischen Atomindustrie: Auf dem Landfinger, der sich in den Ärmelkanal hineinschiebt, finden sich nicht nur die Reaktoren von Flamanville, sondern auch die Wiederaufbereitungsanlage von La Hague und die Werft in Cherbourg, in der die Atom-U-Boote gebaut wurden. „Es ist eine Monoindustrie“, beklagt Anger.
Dass die Anti-Atomkraftbewegung so klein sei, liege auch daran, dass die Atomindustrie nun einmal der wichtigste Arbeitgeber in der Region sei. „Die Angst vor der Arbeitslosigkeit hat die Angst vor der Atomkraft überlagert“, meint der Aktivist. „Fast jeder hier hat wen in der Familie, der in der Atomindustrie arbeitet: Da hält man sich mit Kritik natürlich zurück.“ Die Menschen in der Region steckten wie der Vogel Strauß den Kopf in den Sand.
„Man sagt uns: Es ist alles ungefährlich. Aber dann gibt es Kampagnen in denen Jodtabletten verteilt werden. Und es wird ein Auffangbecken für den Fall einer Kernschmelze gebaut. - Ach? Es gibt also das Risiko einer Kernschmelze?“, entrüstet sich Anger. Um die Atomanlage von Flamanville zu besuchen, braucht es normalerweise einige Monate Vorlauf. Journalisten sind willkommen, aber das Genehmigungsverfahren ist aufwendig.
Wenige Tage nach der Katastrophe von Fukushima hat sich die Politik plötzlich geändert: Einige Anrufe genügen, um schon am selben Tag einen Termin zu bekommen. „Wir haben nichts zu verstecken“, lautet das Motto, das der Baustellenleiter im Gespräch alle paar Minuten wiederholen wird. Ein Mitarbeiter des Stromkonzerns EDF führt Besucher zu einer Anhöhe, von der sich ein guter Blick auf die beiden Reaktoren und die EPR-Baustelle bietet. Es weht ein heftiger Wind, die mächtigen Überland-Stromleitungen schnarren. Rote und orangene Kräne ragen in den Himmel. Einige von ihnen hatten eingemauert werden müssen, um zu verhindern, dass sie auf die beiden laufenden Reaktoren fallen.
Der Rohbau des von Areva und Siemens gemeinsam entwickelten EPR-Reaktors besteht aus einem Betonzylinder, der an eine riesige leere Klopapierrolle erinnert. „Der Bau besteht aus zwei Betonschichten und einer Stahlschicht“, erklärt der EDF-Mitarbeiter. Am Ende soll die Hülle so stark sein, dass sie selbst den Aufprall eines abstürzenden Flugzeugs überstehen würde. Zwischen den Baumaterialien wuseln Arbeiter in neongelben Westen herum. Im Hintergrund: das weite Meer, aus dem das Kühlwasser für die Reaktoren entnommen wird. Wenn es wieder ins Meer zurückläuft, darf es höchstens fünf Grad wärmer sein als zuvor.
„Die Anlage befindet sich zwölf Meter über dem Meeresspiegel“, erklärt Antoine Ménager, der die Leitung der Baustelle vor wenigen Monaten übernommen hat. „Das sind vier Meter mehr als der Meeresspiegel nach allen Schätzungen erreichen könnte.“ Die Sicherheit der Anlage ist das wichtigste Thema, seit Fukushima erst recht. „Die Atomkatastrophe in Japan beschäftigt uns sehr, wir fühlen uns den Menschen dort eng verbunden“, sagt Ménager und spricht von einer „weltweiten Atomfamilie“. Es sei klar, dass man aus der Katastrophe Lehren ziehen müsse, auch für den bereits im Bau befindlichen EPR-Reaktor. „Aber es ist noch zu früh, um zu sagen, in welche Richtung das gehe
n wird“, betont er. Ob aus dem EPR-Reaktor ein zweites Zwentendorf werden könnte? Das österreichische Atomkraftwerk an der Donau war so gut wie fertig, als die Bürger in einer Volksabstimmung 1978 die Inbetriebnahme ablehnten und es zur größten Investitionsruine des Landes machte. Doch das ist eine politische Frage, die der Baustellenleiter nicht kommentiert. Derzeit liefern sich EDF und Areva einen Wettlauf: Areva baut im finnischen Olkiluoto den ersten EPR-Reaktor überhaupt. Beide Vorhaben haben sich kräftig verzögert und sind deutlich teurer geworden als geplant. Flamanville III soll nach jüngsten Schätzungen nun 2014 ans Netz gehen, zwei Jahre später als erwartet.
Die Kosten sind von 3,3 Milliarden auf 5 Milliarden Euro gestiegen. Sarkozy argumentiert gerne, dass die Atomkraft klimafreundlich sei, da sie kaum schädliche Treibhausgase verursache. Dabei rechnet er allerdings nicht den CO2-Ausstoß ein, der beim Abbau und bei der Verarbeitung des Urans entsteht. Heute hat Frankreich 58 Atomreaktoren in 19 Anlagen. Das Land nutzt zu 80 Prozent Atomstrom, der deutlich billiger ist als in den übrigen EU-Ländern.
Eigentlich will Frankreich den Anteil an erneuerbaren Energien bis 2020 auf ein Fünftel ausbauen. Bislang hat das Land in erster Linie ein paar Staudämme und Solardächer vorzuweisen. Gegen Windräder gibt es breiten Protest. Allerdings soll demnächst die erste Windkraftanlage vor der Küste entstehen. „Ein Ausstieg aus der Atomkraft kommt nicht infrage“, hatte Sarkozy schon gleich nach der Katastrophe in Japan erklärt. Frankreich werde noch auf Jahrzehnte auf Atomenergie angewiesen sein, betonten seine Minister im Chor.
Viele Franzosen haben den Eindruck, dass aus der Energie-Unabhängigkeit inzwischen eine Atom-Abhängigkeit geworden ist, die sie ganz gerne verringern würden. Die Atomkraftgegner in Flamanville sehen ihre Chance: „Vielleicht wird es jetzt endlich eine öffentleigten sich die Unternehft Anger.