Nach dem Brexit Viele Iren wollen jetzt die Wiedervereinigung
Belfast · Auch Nordirland gehört nicht mehr zur EU. Doch wenn es nach den pro-irischen Katholiken geht, wird das nicht so bleiben: Als Teil eines vereinigten Irlands wollen sie so schnell wie möglich zurück in die Union.
Gebieterisch blickt eine in Stein gemeißelte Königin Victoria vor dem Rathaus von Belfast über die Köpfe der Nordiren hinweg. Das Rathaus, die City Hall, ist ein bombastischer Kasten im Stil des Berliner Reichstags. Drinnen wird man von einem Butler in Empfang genommen. Es geht über spiegelnde Marmorböden und schwere Teppiche. Dann öffnet sich eine Tür, und dahinter sitzt der Lord Mayor von Belfast – der Bürgermeister. Im Rollkragenpulli.
Daniel Baker ist erst 37 Jahre alt und sieht aus wie ein Spitzensportler. Aber das eigentlich Erstaunliche ist: Er gehört der Partei Sinn Fein an, früher der politische Arm der Terrororganisation IRA. Seit ihrer Gründung im Jahr 1905 kämpft Sinn Fein für ein vereinigtes, unabhängiges Irland. Und jetzt sitzt ein Politiker dieser Bewegung auf dem mit rotem Leder überzogenen Lord Mayor-Stuhl, einst das Symbol britischer Macht. Soweit haben sich die Dinge schon entwickelt.
Die Nordiren stimmten seinerzeit gegen den Brexit – vergebens
Daniel Baker – oder für die meisten hier einfach nur Danny – macht sich derzeit ziemliche Sorgen. Stichwort Brexit. Die Nordiren haben 2016 mit 56 Prozent dagegen gestimmt, und doch sind sie seit Freitagnacht nicht mehr Mitglied im Club. „Wir wurden ignoriert“, beschwert sich Baker, und für einen Moment verschwindet das strahlende Lächeln aus seinem Gesicht. Er spricht über seine Kinder, die noch klein sind. „Ich will, dass sie die gleichen Rechte haben wie jemand aus Deutschland.“ Die Europäische Union habe seit Jahrzehnten eine enorm wichtige Rolle für Nordirland gespielt, einmal durch konsequente Unterstützung des Friedensprozesses und dann durch konkrete Finanzhilfen.
Immer wieder stößt man in Belfast auf Hinweistafeln, die darüber informieren, dass hier etwas mit EU-Geldern aufgebaut worden ist. Ein solches Schild hängt zum Beispiel im „Titanic Quarter“ mit einem Museum zu dem einst hier gebauten Luxusliner, von dem es auf T-Shirts und Teetassen heißt: „Erbaut von Iren, versenkt von einem Engländer.“ Dem Kapitän, der mit überhöhter Geschwindigkeit gegen den Eisberg donnerte.
Vorbild für die Verfechter
der Idee ist Deutschland
Tourismus ist die große Wachstumsbranche von Belfast. Beispiel Peadar Whelan: Früher plante er Anschläge für die IRA, heute führt er auf Wunsch Besucher durch die Stadt. Whelan wurde wegen eines versuchten Mordanschlags auf einen Polizisten zu lebenslanger Haft verurteilt, 16 Jahre saß er ab. „Ich bereue nichts“, sagt er inmitten von Gräbern getöteter IRA-Terroristen. Der 62-Jährige ist davon überzeugt, dass er noch die Wiedervereinigung Irlands erleben wird – und zwar dank des Brexits.
Sein Freund Robert Mc Clenaghan (62), ebenfalls ein ehemaliger IRA-Mann, sieht es genauso: „Brexit könnte sehr positiv sein.“ Der Grund: Die Nordiren waren gegen den Brexit, aber die Regierung in London hat nicht auf sie gehört. Es gäbe aber eine Möglichkeit für sie, doch wieder in die EU zurückzukehren: als Teil der Republik Irland.
Mc Clenaghans Vorbild ist die deutsche Wiedervereinigung. Die neuen Bundesländer hätten 1990 ja auch nicht extra eine EU-Mitgliedschaft beantragen müssen. „Sie wurden automatisch als Teil des wiedervereinigten Deutschlands betrachtet. Das ist unser Modell, unser Vorbild, das wir in den nächsten fünf Jahren kopieren möchten.“ Eine Kleinigkeit gibt es davor noch zu regeln: Boris Johnson müsste einem Referendum über die Wiedervereinigung Irlands erst zustimmen.
„Boris Johnson ist ein zwanghafter Lügner!“ Guinness trinken und dabei auf Boris schimpfen – das gehört in einem irischen Pub mittlerweile zusammen. An diesem Freitagabend verbringen drei irische Brüder die letzten Stunden vor dem Brexit in der Bar des „Europa Hotels“. Das Hochhaus mit säulengeschmücktem Eingang führt den inoffiziellen Beinamen „meistbombardiertes Hotel der Welt“. Während des Nordirlandkonflikts war es Ziel von mehr als 30 Anschlägen. Heute erinnern daran nur noch ein paar Zeitungsartikel in einer Vitrine, heute will Belfast einfach eine ganz normale Stadt sein: kosmopolitisch, tolerant und modern. Und bald auch wieder in der Europäischen Union? Die drei Zechbrüder halten das für möglich.
Sollte es tatsächlich zur Wiedervereinigung kommen, wären Sinn Fein und die IRA am Ziel ihrer Träume. Allerdings wäre dann mit einem Gewaltausbruch auf der anderen Seite zu rechnen, denn auch die Protestanten haben paramilitärische Organisationen. In der von Katholiken bewohnten Bombay Street in West-Belfast sind die Rückseiten der Häuser mit riesigen Gitterkäfigen versehen – zum Schutz vor Molotowcocktails, die aus dem direkt gegenüberliegenden Protestantenviertel hinübergeschleudert werden könnten.
Es ist das erste Wochenende nach dem vollzogenen Brexit. Der Eingang zu Daniel Bakers City Hall hat sich plötzlich verändert: Überall flattern britische Union Jacks. Eine Gruppe von Demonstranten hat die Flaggen am Zaun befestigt. Die Verfechter der Union mit Großbritannien machen damit deutlich, dass sie sich noch lange nicht geschlagen geben.