Der Brexit ist da - ein Essay Großbritannien, lass’ uns Freunde bleiben!
Düsseldorf/London · Es ist unwirklich, aber die Briten sind weg. Das Trennungsjahr beginnt. Wie immer, wenn eine Beziehung endet, gibt es Schmerz. Aber auch Chancen. Jetzt nur keinen Rosenkrieg!
Es scheint unwirklich, dass es jetzt wirklich so weit ist. 31. Januar 2020. Brexit. Großbritannien verlässt die Europäische Union. Das ist auch deshalb so wenig fassbar, weil – außerhalb von Brüssel, wo die britischen Abgeordneten jetzt das EU-Parlament räumen müssen – der Austritt bis zum Jahresende kaum spürbare Auswirkungen hat. Für Reisende bleibt vorerst alles beim Alten. Im Handel bleibt vorerst alles beim Alten. Aber es ist eben doch das Ende einer Beziehung. Die Kleider der Briten hängen quasi noch im Schrank der EU, die gerahmten Bilder vom letzten gemeinsamen Urlaub stehen noch auf dem Nachttisch, und so richtig ist das mit Unterhalt und Finanzen noch nicht geklärt – aber das Trennungsjahr ist offiziell eingeläutet. Und das Gefühl, verlassen worden zu sein, erfasst uns.
Wie könnte es nicht? Nach dieser langen gemeinsamen Geschichte. Schließlich hatten Europa und Großbritannien schon jahrzehntelang etwas miteinander, bevor sie am 1. November 1993 mit dem Vertrag von Maastricht Ernst machten. Vor etwas mehr als einem Jahr feierten sie noch Silberhochzeit – aber da war das Ende ja in Sicht.
Es war nicht immer harmonisch, aber auch nicht chancenlos
Allein die Zeit, die man zusammen verbracht hat, rettet die Verbindung eben nicht. Auch da ist es in der Politik wie im Leben. Thomas Gottschalk und seine Thea immerhin trennten sich im vergangenen Jahr nach 43 Ehejahren – viel mehr als Briten und EU hatten. Schauspieler Colin Firth (auch ein Brite) und seine Frau Livia nach 22 – nur marginal weniger als die britisch-europäische Ehe. Sie wollten „eine enge Freundschaft aufrecht erhalten“, gaben Firth und Frau bekannt. Und auch das kennt man ja vom Brexit und möchte den Firthens und Johnsons beleidigt zurufen: Jaja, so seid ihr Briten; die enge Verbindung mit all ihren Benefits wollt ihr halten, aber die echte Partnerschaft mit all ihrer Verantwortung werft ihr weg.
Der erste Impuls für eine Reaktion auf das Verlassenwerden ist – ganz gleich ob Mensch oder Nation: Dann guck’ doch, wie du allein klarkommst! Koch’ dir selbst dein Essen, wasch’ deine Klamotten selbst und zahl’ hohe Zölle auf Importe aus der EU. Aber Obacht, diesem Impuls nachzugeben, ist gefährlich, denn in der Liebe wie in der Politik gilt: Ein hässlicher Rosenkrieg schadet immer allen.
Natürlich ist Vernunft schwierig in Momenten des Liebeskummers wie an diesem 31. Januar, an dem Großbritannien schlussendlich auszieht. Da kommen sentimentale Gedanken an all das Schöne, das man am anderen hatte: „Tatsächlich... Liebe“ zu Weihnachten, James Bond, Baked Beans und Bacon zum Frühstück, die Royals ... Natürlich auch an all das, was eh schon immer ein bisschen genervt hat: der schräge Humor, der komische Akzent, sonnenverbrannte Körper an spanischen Hotelpools. Die Royals ...
Klar, es war nicht immer eine harmonische Beziehung. Den Euro haben sie schon nicht haben wollen – vielleicht ein Zeichen, dass sie sich nie vollends hingaben. Knatsch gab es etwa 2003, als die Briten Hals über Kopf mit den USA in den Irak einmarschierten, ohne das vorher mal ordentlich zu Hause in Europa zu besprechen. Die Finanzkrise ein paar Jahre darauf war nicht leicht, der große Flüchtlingsstrom 2015 ebenso wenig. Aber Krisen durchlebt doch jedes Paar. Dann kommt es darauf an, sich gegenseitig zu zeigen, dass das Zusammensein den Kampf wert ist. Das haben wir offensichtlich nicht geschafft, und so dürfen wir Großbritannien nicht glauben, sollte es nun zum Abschied beteuern: „Es liegt nicht an dir ...“ Es liegt auch an uns. Schuld ist nie nur einer.
Beim Geld hört die Freundschaft auf – Liebe erst recht
Die Brexiteers machten vor dem Referendum Stimmung mit der Behauptung, Großbritannien überweise wöchentlich 350 Millionen Pfund an die EU – und auf der Insel hatte man nicht das Gefühl, dafür genug zurückzukriegen. Das ist immer schlecht. Ohne Geben und Nehmen sowie die Sicherheit, gehört und ernst genommen zu werden, funktioniert es nicht. Und beim Geld hört die Freundschaft bekanntlich eh auf. Liebe erst recht. Da half auch nicht, dass die Premier-League-Clubs sich in letzter Sekunde fürs Zusammenbleiben aussprachen. Und was der Fußball nicht heilen kann, das ist vielleicht wirklich unheilbar. Trotzdem: Von 46,5 Millionen Wahlberechtigten stimmten am 23. Juni 2016 gerade einmal 72 Prozent ab und von denen wiederum bloß knappe 51,9 Prozent für die Trennung von der Union. Es war nicht so, als hätte diese Beziehung nie eine Chance gehabt.
Doch Schluss mit Rückspiegel-Bitterkeit. Wer verzweifelt nach Hoffnung und Hilfe sucht, der stößt auf ein komplettes Buchgenre, welches das Ende zum Anfang erklärt und auf diversen Covern etwa verheißt „Nach der Trennung kommt das Glück“ oder „Glücklich getrennt: Wie wir achtsam miteinander umgehen, wenn die Liebe endet“. Trennung steht auch für Aufbruch, für neue Chancen.
Kann Europa zur glücklichen Patchworkfamilie werden?
Wenn man sie gescheit gestaltet, versteht sich. Mit einem klaren Schnitt und ebenso klaren Regelungen, aber eben ohne Rosenkrieg. Schließlich sind Großbritannien und die EU zwar nicht mehr zusammen, aber sie gehören doch noch zu ein- und derselben Familie. Damit die nicht zerbricht, müssen wir uns jetzt allesamt am Riemen reißen. Sonst mischt sich Donald Trump am Ende noch als Paartherapeut oder Scheidungsanwalt ein; das macht er zuletzt ja ganz gern mal. Kann aber keiner wollen.
Nein, wir müssen jetzt nach vorn schauen. Uns bloß nicht sagen: Die kommen schon zurück, wenn sie feststellen, wie mies es ihnen allein geht! Wir müssen Großbritannien das Beste wünschen für sein Solo und es auch so meinen. Eine letzte Umarmung und ein aufrichtiges: Lass uns Freunde bleiben! In der Hoffnung, dass Europa zu einer bunten Patchworkfamilie werden kann, in der EU-Staaten, Schengen-Staaten, Euro-Staaten und jene, die nichts davon sind, vielleicht nicht verliebt, aber doch friedfertig und konstruktiv zusammenleben. Na gut, für eine Sekunde dürfen wir in dieser Umarmung den Gedanken zulassen, wie schön es wäre, wenn die Briten doch irgendwann zurückkämen. Mal ehrlich: Wenn Brad Pitt und Jennifer Aniston aktuell wieder anbandeln, nachdem er ihr das Herz gebrochen hat, ist nichts unmöglich. Das war Ihnen jetzt eine Promipaar-Analogie zu viel? Entschuldigung, aber Politik und Liebe haben – das sollten diese Zeilen gezeigt haben – ungeheuer viel gemeinsam. Und außerdem: In der Liebe ist alles erlaubt. Bye bye, Britain. We love you still.