In Londons sozialem Brennpunkt herrscht Anarchie
Im Stadtteil Tottenham kommt es zu schweren Krawallen. Auslöser ist die Erschießung eines Mannes durch die Polizei.
London. Tottenham, eines der multi-ethnischen Viertel Europas, ist am Wochenende von Gewalt und Anarchie erschüttert worden. Bei den brutalsten Ausschreitungen seit 1985 brannten in der Nacht zu Sonntag mehrere Häuserblöcke, Streifenwagen und ein Doppeldecker-Bus nieder. Eine stärkere Polizeipräsenz soll Nordlondon nun vor einer weiteren Eskalation schützen — doch genau diese Taktik ist brenzlig und umstritten.
Es sind Bilder, die schockieren. Der Norden der Hauptstadt glich am Sonntag einem Kriegsschauplatz: Rauchgeschwärzte, kokelnde Häuserskelette, verbrannte Autowracks, Steine und Brechstangen erinnerten an eine Nacht, die es so schon lange nicht mehr in dem sozialen Brennpunkt Londons gegeben hat.
Am späten Samstag nahmen die Unruhen ihren Lauf, als ein ursprünglich friedlicher Marsch von Krawallmachern gekapert wurde. Über den Auslöser gehen die Augenzeugenberichte zwar auseinander. Mehrere Beteiligte wollen allerdings gesehen haben, dass Polizisten eine junge Frau zu rabiat zurechtwiesen.
Die Demonstranten sollen daraufhin einen Streifenwagen angezündet, fotografiert und die Bilder über Twitter verbreitet haben. Danach geriet die Lage völlig außer Kontrolle: Aus der ganzen Stadt reisten junge, gewaltbereite Männer in den Norden, um sich an den Ausschreitungen zu beteiligen. Orthodoxe Juden, deren Viertel an Tottenham angrenzt, verteilten frisches Brot an die Randalierer, um ihre eigenen Geschäfte vor der Wut auf der Straße zu schützen.
Die explosive Stimmung kommt nicht von ungefähr. Am Donnerstag war ein 29-jähriger, bewaffneter Schwarzer nach einer Verfolgungsjagd von der Polizei an der U-Bahn-Station Tottenham Hale erschossen worden. Scotland Yard spricht von Selbstverteidigung — ein Beamter überlebte nur, weil sein Funkgerät eine Kugel abfing; Augenzeugen hingegen berichten, dass der Verfolgte Mark D. bereits am Boden lag, als ihn der tödliche Schuss traf. Der zu Beginn friedliche Protest der Anwohner sollte Druck auf die Polizei machen, den Vorfall zu untersuchen.
Die Unruhen reißen einen kaum vernarbten Konflikt zwischen weißen Polizisten und überwiegend schwarzer Bevölkerung erneut auf. Mit Sorge sehen viele Londoner die Parallelen zum Jahr 1985, als ein Polizist in Tottenham von einem wütenden Mob mit einer Machete getötet wurde.