„Virus nimmt keine Rücksicht“ Merkel dringt auf neue Corona-Maßnahmen

Berlin · Die Infektionszahlen steigen rasant, in manchen Regionen wird die Situation der Kliniken schwierig. Was tun gegen die vierte Welle, die sich bedrohlich aufbaut? Die Kanzlerin fordert "schnellstmöglich" ein abgestimmtes Vorgehen.

„Das Coronavirus nimmt keine Rücksicht darauf, ob wir gerade eine geschäftsführende Regierung haben, ob wir gerade Koalitionsverhandlungen haben“: Angela Merkel. Foto: Kay Nietfeld/dpa

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat sich angesichts des anhaltenden Anstiegs der Infektionszahlen für neue Corona-Maßnahmen ausgesprochen. "Wir brauchen Maßnahmen, um den Anstieg einzudämmen", sagte sie am Mittwochabend. Denn die Impfrate in Deutschland reiche nicht aus, "um ein schnelles Ausbreiten des Virus zu verhindern".

"Das Coronavirus nimmt keine Rücksicht darauf, ob wir gerade eine geschäftsführende Regierung haben", fügte die scheidende Kanzlerin hinzu. Deshalb plädiere sie dafür, "schnellstmöglich" eine Ministerpräsidentenkonferenz einzuberufen und ein abgestimmtes Vorgehen in allen Bundesländern zu verabreden.

Zum einen müsse es dabei um die Auffrischungsimpfungen für über 60-Jährige und Pflegepersonal gehen. "Diese Impfung muss schnell erfolgen, weil die Wirkung nachlässt und die Impfungen oft schon länger als ein halbes Jahr zurückliegen", sagte Merkel. Außerdem müssten sich die Bundesländer abstimmen, "wann wir zusätzliche Maßnahmen wie zum Beispiel 2G einsetzen". Dies könne zum Beispiel am regionalen Hospitalisierungsindex festgemacht werden.

Die möglichen künftigen Regierungspartner SPD, Grüne und FDP wollen an diesem Donnerstag eigene Pläne für den Kurs im Winter in den Bundestag einbringen. Im Blick stehen auch mehr Beschränkungen für Ungeimpfte und mehr Tempo bei Impfungen. Corona-Schnelltests sollen bald wieder auf breiterer Front kostenlos zu bekommen sein.

Die Corona-Lage in Deutschland

Die Pandemie breite sich „in dramatischer Weise“ aus, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert am Mittwoch. Die Gesundheitsämter meldeten laut Robert Koch-Institut (RKI) den Rekordwert von 39 676 Neuinfektionen an einem Tag. Die Zahl der neuen Fälle pro 100 000 Einwohner in sieben Tagen erreichte mit 232,1 den dritten Tag in Folge einen Höchstwert. Die regionale Spanne der Sieben-Tage-Inzidenz ist groß: Sie reicht von 82,2 in Schleswig-Holstein bis zu mehr als 450 in Thüringen und Sachsen. „Wir haben jetzt im Moment eine echte Notfallsituation“, sagte der Berliner Virologe Christian Drosten angesichts der Lage auf den Intensivstationen im NDR-Podcast.

Das Bund-Länder-Ringen in der Corona-Pandemie

„Wir brauchen hier wieder eine gesamtstaatliche Kraftanstrengung“, sagte Merkel am Mittwochabend vor Beratungen mit dem portugiesischen Premierminister António Costa und dem lettischen Ministerpräsidenten Krisjanis Karins im Gästehaus der Bundesregierung in Meseberg nördlich von Berlin. Man müsse schnellstmöglich zu einer Ministerpräsidentenkonferenz mit Bund und Länder zusammenkommen, „um ein harmonisches, gleichlautendes Verhalten und gleichlautende Maßnahmen in Deutschland durchzuführen“. „Das Coronavirus nimmt keine Rücksicht darauf, ob wir gerade eine geschäftsführende Regierung haben, ob wir gerade Koalitionsverhandlungen haben“, sagte Merkel.

Die Kanzlerin steht laut Seibert in intensivem Kontakt, um zu einem schnellen Termin für eine Beratung mit den Ministerpräsidenten zu kommen. Unter den Ländern gab es aber vorerst keine einheitliche Linie zu einer neuen Runde in dem umstrittenen Format, das in der Corona-Pandemie viele Maßnahmen beschlossen hatte.

Merkel stehe in intensivem Kontakt, um zu einem schnellen Termin für eine Beratung mit den Ministerpräsidenten zu kommen, sagte Seibert. Nötig sei „eine schnelle und einheitliche Reaktion“ - etwa zu mehr Auffrischungsimpfungen oder den Schwellen, ab welcher Klinikbelastung mit Corona-Patienten zusätzliche Maßnahmen nötig werden. Merkels Gesprächsangebot steht seit Tagen. Unter den Ländern gab es aber vorerst keine einheitliche Linie zu einer neuen Runde in dem umstrittenen Format, das in der Corona-Pandemie viele Maßnahmen beschlossen hatte.

Die Ampel-Pläne

„Im Übergang von alter zu neuer Regierung müssen wir in dieser brenzligen Lage gemeinsam kommunikations- und handlungsfähig sein“, sagte Grünen-Gesundheitsexperte Janosch Dahmen der Deutschen Presse-Agentur. Im Bundestag müsse daher am Donnerstag „eine unmissverständliche Botschaft über den Ernst der Lage“ gesendet werden. SPD, FDP und Grüne bringen einen Entwurf für eine neue Rechtsgrundlage für Corona-Maßnahmen ein. Die Möglichkeiten sollen angesichts der Impfungen künftig enger gefasst werden, dazu gehören weiterhin Maskenpflicht, Abstands- oder Zugangsregeln. Zur Lage sprechen will unter anderem SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz. Ihm war unter anderem von CSU-Chef Markus Söder Abtauchen vorgeworfen worden.

Die Impfungen

Bei den Corona-Impfungen wurden am Dienstag laut RKI 312.000 Spritzen gesetzt - so viele an einem Tag wie seit August nicht mehr, wie der geschäftsführende Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) bei Twitter erläuterte. „Die Richtung stimmt, reicht aber noch nicht, um die Dynamik zu brechen.“ Insgesamt sind nun mindestens 55,9 Millionen Menschen oder 67,3 Prozent aller Einwohner vollständig geimpft. Eine Impf-Verstärkung („Booster“) mindestens sechs Monate danach haben inzwischen gut drei Millionen Bundesbürger bekommen.

Das Impftempo

Um die Impfungen stärker anzukurbeln, sollen auch praktische Lösungen her. Ab 16. November könnten Praxen wieder wöchentlich Impfstoff bestellen, nachdem man im Sommer einvernehmlich auf einen Zwei-Wochen-Rhythmus umgestellt habe, erläuterte die Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände. Aufgetaute Impfstoffe könnten im Praxis-Kühlschrank dann einen Monat oder länger aufbewahrt werden. Die Deutsche Stiftung Patientenschutz pochte auf rasche und breiter angelegte Angebote zu Auffrischungsimpfungen. Es würden jetzt schon ältere Menschen, deren Impfung über ein halbes Jahr her ist, auf das nächste Jahr vertröstet, monierte Vorstand Eugen Brysch.

Die Gratis-Tests

Zum 11. Oktober endete das vom Bund finanzierte Angebot kostenloser „Bürgertests“ für alle - nun wird ihr im Prinzip schon angekündigtes Comeback konkreter. Voraussichtlich ab kommender Woche soll man wieder mindestens einen kostenlosen Schnelltest pro Woche durch geschultes Personal und mit Bescheinigung machen können. Laut einem Verordnungsentwurf des Bundesgesundheitsministeriums sollen bisherige Anbieter die Tätigkeit fortsetzen können. Zusätzlich sollen nur noch Sanitätshäuser oder Drogerien beauftragt werden. Zuerst berichteten die Zeitungen der Funke-Mediengruppe darüber.

Neue Schutzmaßnahmen

Grünen-Experte Dahmen forderte, die zigfach höhere Inzidenz bei Ungeimpften mache eine bundesweite 2G-Regelung nötig. Das heiße Zugang nur für Geimpfte und Genesene (2G) für alle Freizeitaktivitäten und nicht-essenziellen Dienstleistungen. Am Arbeitsplatz, im Bahn- und Nahverkehr müssten Zugangsregeln für Geimpfte, Genesene und Getestete (3G) gelten. Auch SPD-Experte Karl Lauterbach sagte dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND), er rate jeder Landesregierung zur Einführung von 2G.

Die aktuellen Länder-Regeln

Der Zugang zu Kino, Gaststätten oder Friseuren ist bisher unterschiedlich geregelt. Vorreiter bei 2G ist Sachsen. Seit Wochenbeginn dürfen dort nur Geimpfte und Genesene in Restaurants, Kneipen oder Discos. Berlin zieht nun nach, dort soll es nach einem Senatsbeschluss ab Montag umfangreiche 2G-Regeln geben. Restaurants, Kinos, Theater, Museen sowie Freizeiteinrichtungen wie Saunen und Thermen oder Vergnügungsstätten wie Spielhallen, sowie geschlossene Räume in Freizeitparks oder ins Zoos stehen dann nur noch Geimpften und Genesenen offen. Ausgenommen davon sind Personen, die das 18. Lebensjahr noch nicht erreicht haben. Für sie reicht weiterhin ein nachgewiesener negativer Corona-Test.

Auch in Bayern gilt 2G weitgehend - für Gastronomie, Friseure oder Fußpflege gilt aber 3G-Plus: Auch mit negativem PCR-Test dürften Ungeimpfte hinein. 3G-Plus gibt es auch in Nordrhein-Westfalen - aber anders: Ungeimpfte dürfen in Discos oder auf Karnevalspartys mit einen PCR-Test oder maximal sechs Stunden altem Schnelltest. Sonst gilt in NRW weitgehend 3G, so dass auch ein maximal 24 Stunden alter negativer Schnelltest reicht. Andere Länder setzen schon darauf, Gastronomen und Veranstaltern 2G zu ermöglichen.

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(dpa/afp)