Kampf gegen die Schleuser Wenn Grenzschützer an Grenzen stoßen

Berlin (dpa) - Jürgen Nissen hat genug von den kleinen Fischen, an die großen will er ran. An diejenigen, die Menschen wie eine Ware hier an die deutsch-dänische Grenze verfrachten lassen: in Transportern, in Autos, in Wohnmobilen, einmal sogar in einem Krankenwagen.

Meist sind die Fahrzeuge randvoll gefüllt. Ziel: Dänemark. Bundespolizist Jürgen Nissen kann wenig dagegen tun.

Er kann sich zwar mit seinen Kollegen auf die Lauer legen, Fahrzeuge anhalten, die Fahrer rausziehen, noch bevor sie die Grenze Richtung Norden überwinden. Er kann sie verhören, Telefone überwachen, Puzzleteile zusammensetzen. Doch dann stößt Nissen oft an andere Grenzen. Denn die, die die Schlepper dirigieren, sind oft unerreichbar weit weg: die Drahtzieher im Schleusergeschäft.

Not und Leid von Millionen Menschen in Armutsregionen und Kriegsgebieten schüren eine globale Nachfrage: Menschenschmuggel ist ein Milliardengeschäft. „Es gab nie einen größeren Markt für die Schlepperei als in den vergangenen zwei Jahren“, sagt Robert Crepinko, Chef des Anti-Schleuser-Büros der Polizeibehörde Europol. Zwar habe das Geschäft in Europa nach 2015 insgesamt an Volumen eingebüßt durch Zäune, Wachhunde und Grenzpolizisten. Dennoch seien gerade deshalb die Dienste der Schleuser gefragter denn je. Auf dem Weg nach Europa bedienen sich neun von zehn Flüchtlingen krimineller Hilfe, berichtet Europol.

TRANSPORTE IN TANKWAGEN

Besonders die lebensgefährlichen „Containerschleusungen“ nehmen, wie Sicherheitsbehörden berichten, wieder zu - Transporte in umgebauten Tankbehältern, in Kühllastern und Zugwaggons. Knapp 17 500 Verdächtige haben die Ermittler in Europa 2016 identifiziert, 24 Prozent mehr als im Vorjahr. „Es wurde nie mehr Energie in den Kampf gegen Schleuser gesteckt als heute“, sagt Crepinko.

Polizisten und Staatsanwälte kämpfen einen mühsamen, oft aussichtslos scheinenden Kampf gegen die Schleuser. Allzu oft scheitern sie an den Grenzen, die ihre Gegner durchlöchern. Den starren Bürokratien der Sicherheits- und Justizbehörden stehen anpassungsfähige, flexible Netzwerke gegenüber. Es gibt kaum feste Strukturen im Schleusergeschäft, sondern meist kleinere Zellen und flache Hierarchien.

Die Schleuser arbeiten in losen Netzwerken, splitten sich auf und formieren sich neu. Die Zellen bestehen aus Organisatoren, Logistikern, Passfälschern, Fahrern. Wegen der hohen Nachfrage kommen sich die Kriminellen kaum ins Gehege, sondern schanzen sich noch Aufträge zu. Wird eine Gruppe gefasst, bilden sich zwei neue.

BEI DER BUNDESPOLIZEI IN FLENSBURG

Jürgen Nissen kämpft diesen Kampf schon sein halbes Leben lang. Der 54-Jährige leitet das Team der Schleuserermittler in Flensburg, er ist zuständig für Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern. In den 90er Jahren waren es die Palästinenser, die hier durchreisen wollten gen Norden, erzählt er. Ihnen folgten Menschen aus China, aus Eritrea. Nun sind es Syrer und Iraker, die dem Krieg entfliehen und ein besseres Leben suchen.

Jürgen Nissen ist ein großgewachsener Mann. Kurze Haare, norddeutscher Dialekt, freundliches Gesicht. Er sitzt in der Kaffeeküche des alten Backsteingebäudes der Bundespolizei Flensburg. Vor ihm liegt eine gelbe Akte mit seinen letzten Fällen. Nissen interessiert sich wenig für die Fahrer, die sie an der Grenze im Norden aufgreifen. Außer sie nennen ihm Auftraggeber und Kontaktleute im Ausland. „Da kommen wir ins Boot“, sagt er. Er ist Hintermännern im Schleusergeschäft auf der Spur.

Aber da fangen seine Probleme an. Deutschland ist für viele Schleuser Zielland und Endpunkt der Reise, die Ermittler müssen sich meist mit der letzten Etappe des Wegs zufrieden geben, weil es an der Zusammenarbeit mit den Herkunftsländern mangelt.

Gerald Tatzgern vergleicht den Kampf gegen die Schleuser mit der Krebsheilung. Zwar würden auch dort Erfolge verzeichnet. „Aber trotzdem wird man die Menschheit nie vor Krebs schützen können, das ist undenkbar.“ Tatzgern leitet seit einem Jahr das internationale Schlepperbüro in Wien, eine Art Verbindungsbüro für europäische Schleuserbekämpfer. Immer wieder lädt er Ermittler aus ganz Europa ein. Und er hat alle Hände voll zu tun. „Millionen Menschen sind unterwegs, alles drängt in Richtung Europa“, sagt er. „Es ist ein krisensicherer Job.“

Seit einem Jahr gibt es sein Büro im Herzen Europas, dort wo sich die Mittelmeerroute und die Balkanroute kreuzen. Wenn Tatzgern sein erstes Jahr bilanziert, erzählt er gern von der vollautomatischen Kaffeemaschine im Konferenzraum. Die zählt jeden Tag die Cappuccinos, Macchiatos und Espressos, die sie im Konferenzraum fabriziert. Fast jede Woche kämen Ermittler aus ganz Europa, von Serbien bis zur Schweiz. 18 000 Tassen Kaffee seien bislang getrunken worden. „Da sehen Sie, was das für eine Frequenz ist“, sagt Tatzgern.

DIE BOSSE SITZEN WEIT WEG

Aber was außerhalb Europas geschieht, kann Tatzgern nur ahnen. Die großen Figuren im Schleusergeschäft sitzen im außereuropäischen Ausland, in der Türkei, Syrien, in Ägypten, Libyen, weiteren afrikanischen Staaten. Diese Strukturen sind für die Ermittler nur schwer nachzuverfolgen.

Die Türkei etwa ist der zentrale Startpunkt für die Balkanroute, Libyen für den Weg übers Mittelmeer. Ausgerechnet mit diesen Schlüsselländern liegt die Zusammenarbeit derzeit brach. In der Türkei wurden seit dem Putsch Tausende Polizisten ausgetauscht. Auch die diplomatische Krise der Türkei mit Deutschland belastet die Zusammenarbeit, berichten Ermittler unter vorgehaltener Hand. Und im zerfallenden Staat Libyen gibt es überhaupt keine Ansprechpartner mehr. „Mit wem sollen wir wie zusammenarbeiten?“, fragt Tatzgern. Aus diesen Ländern kommt keiner, um mit ihm bei einem Kaffee zu beraten.

Die dicken Fische von Jürgen Nissen sitzen in Syrien. Er weiß nicht, wie sie heißen. Er weiß aber, dass es zwei Männer sind, die in einem kleinen Ort leben, an der Grenze zur Türkei. Dass sie einer größeren Familie angehören. Und dass sie zu den großen Drahtziehern im Schleusergeschäft gehören.

Die beiden Männer haben Kontakte in ganz Europa, Büros in Syrien und der Türkei, Verbindungsleute in Bulgarien, sie haben ein Netzwerk entlang der Route, erzählt er. Sie verfügen über logistische Fähigkeiten, um Flüchtlinge über Land oder Wasser nach Europa zu bringen, sie organisieren Transport und Unterkunft. Sie planen Reiserouten, stellen Unterkünfte zur Verfügung, organisieren Fahrer. 10 000 Euro kostet so eine komplette Reise etwa, für Kinder die Hälfte. Sie machen das seit Jahren und verdienen damit einen Millionenbetrag. „Die nehmen eine Monopolstellung ein“, sagt Nissen.

Seit Mai 2015 ist Jürgen Nissen den Männern in Syrien auf der Spur. Er raubt ihnen langsam die Geschäftspartner in Europa. Sieben Leute sitzen bereits in Haft. Die Ermittler nahmen zum Beispiel eine Spedition aus der südtürkischen Stadt Mersin hoch, die mit den beiden Syrern Geschäfte machte. Sie hatten Flüchtlinge in umgebauten Kraftstofftanks von der Türkei nach Deutschland transportiert. Sie haben einen Kontaktmann der Männer in Deutschland im Visier. „Wir sind eng dran“, sagt er. Mehr darf er nicht sagen.

Doch die Drahtzieher können sich vorerst zurücklehnen. Selbst wenn Nissen ihre richtigen Namen herausfindet, könnte er mit einem internationalen Haftbefehl wenig ausrichten. Mit Syrien herrsche derzeit kein Rechtshilfeverkehr. „Wir könnten keine Polizei aktivieren, die dort mal einen Haftbefehl erwirkt“, sagt er, leicht frustriert. „Wir müssen hoffen, dass sie sich mal aus dem Land herausbewegen.“ Selbst wenn sie sich in die Türkei wagen würden, wäre Nissen nicht sicher, ob die Behörden dort die Beschuldigten auslieferten. Nissen ist zur Geduld verdammt. „Das ist das größte Übel“, sagt er. „Wenn man Ermittlungen führt und den Beschuldigten nicht festnehmen kann.“

„Ein Großtäter, der es sich gemütlich macht in seinem Land, hat allerbeste Karten“, berichtet auch die Berliner Oberstaatsanwältin Petra Leister, zuständig für die Strafverfolgung der Schleuser in der Hauptstadt. Sie berichtet von Hürden auch innerhalb Europas - etwa Probleme mit Europäischen Haftbefehlen. „Das nutzt nur begrenzt“, erzählt sie. Manche Länder etwa wie Polen lieferten nicht aus, wenn die Tat zum Teil im eigenen Land stattgefunden habe. Für ein nicht auslieferndes Land sei die Strafverfolgung häufig von geringerer Relevanz, „wenn dort entweder örtlich nichts passiert, sondern nur anderswo oder wenn die Ausländer lediglich "durchgeschleust" werden“.

Die deutschen Beamten teilten oftmals ihre Ermittlungsergebnisse - und der Fall werde trotzdem, soweit ersichtlich, nicht weiterverfolgt. „Das führt letztendlich dazu, dass gar keiner verfolgt wird.“ Und wenn was passiert, sei das Strafmaß oft viel geringer als in Deutschland, etwa wie bei Sachbeschädigung. „In manchen Ländern ist das kaum mehr als ein Kavaliersdelikt“, sagt Leister verärgert.

Die eigentlichen Opfer sähen sich oftmals nicht als Opfer, sagt Leister. Sie geben ihre Schleuser selten preis, weil sie Angst haben oder weil sie Verwandte nachholen wollen. Leister spricht von Zufallserkenntnissen in einem großen Dunkelbereich. „Von den Geschleusten erfahren wir im Regelfall so gut wie nichts“, klagt sie. Und die Täter stellen sich als Opfer dar, als Unwissende oder als altruistische „Fluchthelfer“. Den Ermittlern blieben oft nur die kleinen Fische, meint auch sie. „Meist kommt man erstmal auf die Dummen, das letzte Glied der Kette.“

PROZESS IN PASSAU

So wie Ibriam H. Der 24-jährige Bulgare sitzt Mitte März auf der Anklagebank des Landgerichts Passau. Er ist ein kleiner, untersetzter Mann, trägt ein blaues Sakko und helle Jeans. Er starrt ins Leere, stützt sein Gesicht auf die Hände. Zwei Jahre und drei Monate Gefängnis. Das Urteil hat die Richterin ihm soeben verkündet.

Im August 2015 schleust Ibriam H. 32 Afghanen nach Deutschland, darunter viele Kinder. Sie sind zusammengepfercht auf der Ladefläche seines Kleintransporters: auf 7,86 Quadratmetern. Damit bleibt für jeden so viel Platz wie ein A2-Bogen Papier. Keine Fenster, kein Licht, keine Pause, kein Kontakt zum Fahrer. Für sechs, sieben Stunden. Der Staatsanwalt spricht von einem „Viehtransport“.

Als Ibriam H. seine Geschichte erzählt, murmelt er auf Bulgarisch vor sich hin. Er habe damals als Gärtner zu wenig verdient, er habe Geld gebraucht, um seine Familie durchzubringen. Seine Frau sei mit dem dritten Kind schwanger gewesen. Er habe zwei Männer in Budapest kennengelernt. „Einer hat mir erzählt von dieser Arbeit“, erzählt er. 3000 Euro hätten sie ihm nach seiner Rückkehr versprochen.

Ibriam H. kehrt nicht zurück. Auf der A3 Richtung Regensburg fliegt er bei einer Polizeikontrolle auf. Den Ermittlern erzählt er nach seiner Festnahme von zwei Männern, darunter ein „Toni, der in Italien wohnt“. Man habe ihn in seinem Dorf abgeholt, nach Budapest gefahren, hinters Steuer des Kleintransporters gesetzt. Was auf der Ladefläche vor sich ging, habe er nicht gewusst. „Mein Mandant ist ihnen auf den Leim gegangen“, sagt sein Anwalt.

Ibriam H. gibt den Ermittlern nicht nur Namen, sondern auch eine Telefonnummer, die seinem Auftraggeber gehören soll. Doch die Infos versinken in den Ermittlungsakten in Passau. „Die damalige Aussage erschien im Jahr 2015 zu vage, um erfolgversprechende Ermittlungen im Ausland durchführen zu können“, teilt die Staatsanwaltschaft mit. Bei den Mobilnummern handle es sich sowieso meist um Prepaidkarten, die sich schwer zuordnen lassen. Und die Namen seien meist falsch.

„Mir tut es leid, was ich getan habe“, sagt Ibriam H. vor Gericht. Der Richterin reicht das nicht. „Es kann sein, dass Sie nur ein kleines Rädchen sind“, sagt sie. „Aber ohne das Rädchen funktioniert das ganze Getriebe nicht.“ Ibriam H. muss ins Gefängnis. Das Getriebe läuft weiter.

Die Ermittler haben es mit einem beinahe unsichtbaren Feind zu tun, sie laufen außerdem oft gegen Wände. Die Erkenntnisse der Behörden sind oft unscharf und widersprüchlich. Die einen berichten von Verbindungen der Schleuser zur Drogenkriminalität, andere verneinen das. Manche sprechen von zunehmenden Zugschleusungen und steigenden Preisen, andere vom Boom der Verwandtenschleusungen in kleinen Autos und gleichbleibenden Preisen. Sicher ist aber: Ein Ende der Nachfrage ist nicht in Sicht. Weltweit sind 60 Millionen Menschen auf der Flucht, weiß das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen.

BLOSS NICHT ÄRGERN

„Ich ärger mich nicht“, sagt Jürgen Nissen in Flensburg. „Dazu bin ich zu lange im Geschäft.“ Manchmal hat aber auch ein Ermittler einfach nur Glück. Nissen war 2014 einem Salah S. auf der Spur. Der ägyptische Schleuserboss hatte Hunderte Menschen mit rumänischen Fahrern von Mailand nach Dänemark bringen lassen, für jeweils 750 Euro. Im Mai 2014 greifen Nissens Kollegen einen Rumänen mit vier ausweislosen Syrern im Wagen auf. Das Auto ist auf Salah S. zugelassen. Und der hat seine Ausweisdokumente im Wagen liegen lassen. Der italienische Kfz-Versicherungsschein, der ägyptische Reisepass, die italienische Aufenthaltsgenehmigung - alles griffbereit für Nissen.

Damit nicht genug: Salah S. will seine Dokumente wiederhaben. Er schickt über einen Freund ein Fax an die Dienststelle, erhält aber keine Antwort. Schließlich macht sich Salah S. selbst auf den Weg nach Flensburg. Aus der Telefonüberwachung erfahren die Flensburger Ermittler von seinem Plan. Um 18.15 Uhr am 30. Mai 2014 spaziert der Schleuser ahnungslos in die Wache, fragt nach seinen Papieren. Stattdessen erwartet ihn Jürgen Nissen mit Handschellen. Der 54-Jährige staunt noch heute. „Dass jemand sich 1500 Kilometer auf den Weg macht, um sich von mir festnehmen zu lassen“, sagt er. „Das hatte ich auch noch nicht gehabt.“ Der Ägypter sitzt nun im Gefängnis.