Interview mit Harry Gatterer Zukunftsforscher: Wie das Coronavirus unsere Welt verändern wird

Düsseldorf · Das Coronavirus hat die Welt fest im Griff. Zukunftsforscher Harry Gatterer sagt, was wir jetzt lernen können, warum unser Zusammenleben anders sein wird – und dass wir Ausgangssperren brauchen.

Dieses undatierte Handout des amerikanischen Centers for Disease Control (CDC) zeigt einen Coronavirus unter dem Mikroskop.

Foto: dpa/Center for Disease Control

Herr Gatterer, Sie beschäftigen sich im Zukunftsinstitut mit Entwicklungen, die unser Leben verändern werden. Jetzt passiert gerade alles auf einmal in der Corona-Krise. Sind wir schlecht vorbereitet und total überfordert?

Harry Gatterer: In der Zukunftsforschung ist es üblich, dass man sich mit extremen Situationen mit großen Kollateralschäden beschäftigt, aber die sind meist hypothetisch. Jetzt ist alles anders, alle Systeme auf Null, in Rekordzeit. Ich würde lügen, wenn ich sage, dass mich das, was gerade passiert, nicht emotional berührt.

Was können wir in dieser Krise für unser Jetzt lernen.

Gatterer: Dass wir schnell lernen müssen. Das Einzigartige an dieser historischen Situation ist ja, dass wir anders als bei 9/11, der europäischen Thermowelle oder der Finanzkrise, wo regionale Systeme schon mal kollabieren, wir aber immer gesellschaftlich durch Sportvereine oder Konzerte und ähnliches aufgefangen werden, jetzt wirklich alle Systeme zur gleichen Zeit auf Null fahren, in globalem Ausmaß. Das ist extrem historisch. Daran werden wir uns alle erinnern. Es geht ja nicht einfach weiter, wenn das Virus im Griff ist.

Sondern?

Gatterer: Wir werden an vielen Stellen in unserem täglichen Leben nicht mehr unseren Alltag erleben. Wir lernen neu, bewerten Dinge neu. Was braucht es wirklich? Wir müssen über Bildung und Ökonomie neu verhandeln. Nur zwei Beispiele.

Die Wirtschaft leidet schon jetzt exorbitant. Was schließen wir daraus für die Zeit nach der Krise?

Gatterer: Sie fährt total in den Keller und hat überhaupt keine Resilienzkapazitäten, wenn der Staat nicht sofort mit massiven Mitteln stützt. Das bedingt neue Konzepte. Auf jeder Ebene. Wir haben deshalb in unserem Institut mit vier Folge-Szenarien gearbeitet. Gingen wir davon ausgehen, dass wir dieses Lernen über alle Systeme hinweg hinbekommen, dann haben wir eine Gesellschaft, die wirklich resilienter ist und weniger anfällig ist für jegliche Formen von Kriegen.

Eine vermutlich zu optimistische Sicht auf die Dinge.

Gatterer: Würde ich vermuten, ja. Wenn diese Adaption nicht stattfindet, haben wir Ausbildungen in Isolation und den permanenten Krisenmodus. Wir haben jetzt schon enorme Kollateralschäden: Alle Regierungen nehmen unglaubliche Milliardensummen in die Hand, um was auch immer zu retten. Wo kommt das alles her? Wieso haben wir das bislang nicht verwendet? Oder: Fehlt das alles nicht nachher? Die Ökonomie folgt dem Prinzip Wachstum, ganz klar. Schon ohne Corona-Krise war klar, dass dieses Prinzip in der vernetzten Welt an Grenzen stößt. Deshalb braucht es andere Prinzipien, zum Beispiel Kreislaufökonomie oder qualitatives Wachstum. Ein Beispiel: Großbritannien bringt für sein Streben nach Wachstum gerade mit der idiotischen Idee einer Herdenimmunität sein ganzes Volk in Gefahr. Allein das wird Europa erschüttern.

Wir erleben in Europa wieder den Rückgang ins Nationale, jeder schließt Grenzen und kümmert sich um sich. Ist das der wahre Zustand Europas?

Gatterer: Nicht kulturell. Aber es zeigt, dass Europa nicht kollektiv, sondern nur national handlungsfähig ist. Wir haben in Europa eine komplizierte Struktur, die kann in der Highspeed-Krise nicht in den Krisenmodus umschalten. Man greift auf das Handhabbare im Nationalen zurück.

Für die europäische Idee ein Debakel.

Gatterer: Das wird sich zeigen. Das wird ja an an niemandem vorbeigehen. Man wird sich in einer neuen Qualität zusammensetzen, dieser Frage in neuer Ernsthaftigkeit begegnen. Innerhalb unseres pessistimistischen Szenarios entsteht aus dieser Krise nationaler Argwohn, Reduzierung auf das individuelle Lebensumfeld, Globalisierung ist Geschichte. Der Systemkollaps kann dazu führen, dass wir Teilsysteme nicht mehr hochkriegen.

Sie sprachen die Bildung an. Was wird sich verändern?

Gatterer: Wir lernen gerade, auf welche Zukunft wir uns bisher vorbereitet haben. E-Learning? Die Technologie steht gar nicht zur Verfügung. Und nicht die Kultur. Schüler und Studenten sind zuhause überfordert, weil Selbstorganisation nirgends angeboten wurde. Wir müssen sofort andere Bildungskonzepte leben, die fehlen jetzt. Es geht ja auch vielen Unternehmen so: Die haben die Technik noch hinbekommen, aber jetzt sitzen die Mitarbeiter zuhause und warten, bis der Chef kommt und ihnen den Stapel auf den Tisch legt.

Wie verändern wir Menschen uns im Alltag nach der Krise?

Gatterer: Zum Beispiel mit anderem Konsum. Die Wirtschaft hat in den letzten 20 Jahren davon gelebt, vor allem Bedürfnisse zu befriedigen, die sie selbst kreiert hat. Wir haben jetzt eine Revision der Bedürfnisse, sie verändern sich, weil wir das erkennen, wenn wir auf uns selbst zurückgeworfen sind. Das wird für die Wirtschaft ein Problem, viele Produkte werden wir nicht mehr brauchen.

Menschen sollen zuhause bleiben, versammeln sich aber weiter. Ist der Mensch nicht lernfähig und asozial?

Gatterer: Er ist überfordert. Vor Corona war unsere Gesellschaft ja schon mit sich selbst überfordert. Jetzt kommt eine Krise, die wir nicht einschätzen können, weil sie unsichtbar ist. Und es ist Frühling, die Blumen sprießen. Die Leute wollen raus. Nehmen wir die Analogie zu Taiwan und Südkorea: Dort ist es gelungen, aus Sars zu lernen: Sie haben jetzt sofort die Sperren hochgefahren, das wirkt. Für uns ist das immer Fiktion geblieben.

Ist es deshalb unumgänglich, auf Ausgangssperren zurückzugreifen?

Gatterer: Ja. Man muss es reglementieren, weil die Menschen die Situation nicht einschätzen können. Wenn wir jetzt drei Wochen Zeit hätten, könnten wir Aufklärung betreiben. Haben wir aber nicht.

Geben Sie uns etwas Positives mit auf den Weg?

Gatterer: Wir werden sehr viel über uns selbst erfahren. Und wir werden Menschen danach mit ganz anderen Emotionen wiedersehen und begegnen.

Nachhaltig?

Gatterer: Ja, weil alles zu heftig und intensiv ist, als dass wir zur Normalität zurückkehren könnten.