Aktuelle Studie „Bildung besser als ihr Ruf“ - Aber noch viel Luft nach oben
Berlin (dpa) - Bildung ist längst kein „Orchideen-Thema“ mehr - man kann damit Wahlen gewinnen. Wenn kurz vor der Bundestagswahl bundesweit 2000 Mütter und Väter ihre Erfahrungen mit dem Schulsystem schildern, hat die Politik allen Anlass hinzuschauen.
Ergebnisse der Studie des Unternehmens JAKO-O:
„Bildungsrepublik“ für viele gerecht
SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz will die Wahl am 24. September mit dem Thema Gerechtigkeit gewinnen - nach der aktuellen Elternbefragung ist der Zustand des Schulsystems für viele freilich nicht Baustelle Nummer eins. Schätzte noch vor fünf Jahren nur jeder Zweite die Bildungschancen als relativ gerecht verteilt ein, so sind es nun 65 Prozent. „Die Bildung ist als Chancen-Motivator besser als ihr Ruf“, zeigt sich Meinungsforscher Klaus-Peter Schöppner überrascht. „Diese positive Einschätzung beobachten wir regional sehr deutlich, aber leider auch sehr unterschiedlich“, schränkt die Vize-Chefin des Bundeselternrates, Martina Richter, ein. So finden Alleinerziehende das Schulsystem viel weniger gerecht (Positiv-Quote: 52 Prozent).
Lehrer und Schulen mit gutem Image
Viele Eltern sehen Fortschritte bei der seit Jahren so umstrittenen Bildungsgerechtigkeit, aber auch bei der Stimmung insgesamt: Für 62 Prozent ist Deutschland kinderfreundlich (2010: 48) - beispielsweise wegen der verbesserten Versorgung mit Kita-Plätzen. Auf 30 Prozent wirkt das Land noch kinderfeindlich (2010: 45) - ein Tiefstwert. Die Verantwortlichen profitieren davon sehr unterschiedlich: Während Schulen (Durchschnitt 2,4) und Lehrer (2,5) mit einer „Zwei minus“ beurteilt werden, vergeben die Befragten eine 3,3 für die zerklüftete deutsche Bildungspolitik. Nordrhein-Westfalen kommt gar nur auf eine 3,5 - „mit ein Grund womöglich dafür, dass die Regierung von Hannelore Kraft abgewählt worden ist“, sagt Schöppner. An der Spitze liegt Bayern (2,9), die Rote Laterne hält Berlin (3,9).
Das Abi als Maß aller Dinge
Es bleibt dabei: Die Mehrzahl der Eltern (55 Prozent) strebt für das eigene Kind Abitur und Hochschulreife als Bildungsziel an. 36 Prozent der Mütter und Väter genügt die Mittlere Reife, nur noch 4 Prozent ein Hauptschulabschluss. Die Leistungsfähigkeit der Tochter oder des Sohnes werde dabei nicht so häufig überschätzt wie angenommen, hat Meinungsforscher Schöppner festgestellt. Und: Ein besonders schlechtes Image hat der Hauptschlussabschluss inzwischen vor allem bei Eltern, deren Kinder selbst die Hauptschule besuchen - die also ganz konkrete Erfahrungen mit dieser kriselnden Schulform machen.
Ganztag mit Luft nach oben
Zunächst die gute Nachricht: „Seit 2002 hat es einen immensen Zuwachs an Ganztagsschulen gegeben“, sagt der Bildungsforscher KlausJürgen Tillmann von der Universität Bielefeld. Konkret: von 10 auf 47 Prozent Abdeckung. Da aber drei Viertel der Eltern in Deutschland (72 Prozent) sich einen Ganztagsschulplatz für ihr Kind wünschen, klafft weiterhin eine große Lücke. Zudem ist Ganztag nicht gleich Ganztag - verbindliche, gebundene Schulen stehen solchen mit freiwilligem Nachmittags-Zusatzangebot gegenüber. Eltern sähen „teilweise erhebliche Qualitätsdefizite“, sagt Tillmann. Mehr als jeder dritte Befragte (37 Prozent) wünsche sich mehr individuelle Förderung des Kindes, je 25 Prozent sind unzufrieden mit der Hausaufgabenbetreuung, den Gesprächen zwischen Eltern und Lehrern oder der Verknüpfung von Unterricht und Nachmittagsangebot.
Kaum Probleme mit den Flüchtlingskindern
„Hochachtung“ bezeugen Meinungs- und Bildungsforscher angesichts der positiven Einstellung von Eltern zur Flüchtlingsintegration. 95 Prozent befürworten, dass Flüchtlingskinder so schnell wie möglich den Unterricht besuchen. 81 Prozent finden gut, dass ihre Länder dafür zusätzliche Lehrer eingestellt haben. Dass die Geflüchteten zuerst in „Willkommensklassen“ unterrichtet werden sollten, um Deutsch zu lernen, meinen 73 Prozent der Mütter und Väter. Gut sechs von zehn (63 Prozent) sagen, dass an der Schule des eigenen Kindes Flüchtlinge unterrichtet werden. Die meisten (83 Prozent) haben keinerlei Einschränkungen wahrgenommen. „Diese Ergebnisse zeigen eine hohe Solidarität der Eltern gegenüber den in unser Land geflüchteten Kindern“, sagt Martina Richter vom Bundeselternrat.
„Wirtschaft“ oft auf dem Wunschzettel
Wenn sich Eltern zusätzliche Unterrichtsfächer wünschen dürften, dann wäre es am häufigsten „Wirtschaftliches Denken und Handeln“ (59 Prozent). „Ernährung und Gesundheit“ (48) rangiert deutlich dahinter, etwas überraschend liegt „Literarische Bildung“ (40) gleichauf mit „Computer und Internet“ (41). Falls es solche neuen Fächer gäbe, „müsste man überlegen, wo man etwas abknappst“, sagt Bildungsforscher Tillmann. „Also weniger Kunst? Weniger Englisch?“ Er schlägt vor, neue Unterrichtsschwerpunkte in Projekte oder Wahlkurse zu integrieren - an Ganztagsschulen etwa sei so etwas gut machbar.