Dyskalkulie: Wenn Rechenschwäche den Alltag belastet

Erfurt/Berlin (dpa) - Schätzungsweise vier Millionen Menschen in Deutschland kämpfen mit Dyskalkulie, einer angeborenen Rechenstörung. Beeinträchtigt ist der komplette Alltag - nicht nur in der Kindheit.

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Zum Einkaufen zieht der Berliner Helge Pfeffer immer mit dem Taschenrechner los. Ohne die elektronische Rechenhilfe könnte er die Summe, die er bezahlen muss, nicht abschätzen. „Im Kopf überschlagen, das funktioniert gar nicht“, beschreibt der 22 Jahre alte ausgebildete Fremdsprachensekretär sein Problem mit Zahlen und Rechnen, das er seit seiner Kindheit hat. Pfeffer kämpft mit Dyskalkulie, einer angeborenen Rechenstörung, die die Betroffenen ein Leben lang begleitet.

In Deutschland ist das Phänomen gar nicht so selten. Der Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie (BVL), der in Erfurt auf seinem Kongress (9. bis 11. Mai) tagt, geht von vier Millionen Betroffenen aus.

Wer eine Dyskalkulie hat, kommt mit einfachsten Rechenoperationen wie Addieren, Subtrahieren, Multiplizieren und Dividieren nicht klar. Betroffenen gehe das Verständnis für die sich hinter Zahlen verbergenden Mengen- oder Entfernungsangaben völlig ab, erläutert Verbandsgeschäftsführerin Annette Höinghaus. „Das ist, wie wenn man eine Fremdsprache nicht versteht.“

Im Alltag macht das zum Beispiel Schwierigkeiten, Fahrpläne zu interpretieren, Kaufangebote zu checken oder den Kontostand einzuschätzen. Beim Einkaufen behelfen sich Betroffene meist mit der EC-Karte - um Problemen mit Wechselgeld zu entgehen. Auch die Uhrzeit ist oft eine Hürde. Helge Pfeffer zum Beispiel kommt nur mit einer klassischen Uhr mit Zeiger einigermaßen klar.

Hinweis auf eine Dyskalkulie kann es nach BVL-Angaben sein, wenn Kinder auch Jahre nach dem Schuleintritt noch mit den Fingern zählen und überdurchschnittlich lange über einfachen Aufgaben brüten. Bei Helge Pfeffer wurden Eltern und Lehrer stutzig, weil er als Zweitklässler Zahlen spiegelverkehrt schrieb. Ein Test beim schulpsychologischen Dienst ergab die Diagnose Dyskalkulie. „Meine Eltern haben sich bemüht, schnellstmöglich eine Lösung zu finden“, erinnert sich der junge Mann. Sie hätten viel Geld in Nachhilfeunterricht gesteckt. Doch das habe wenig gebracht. „Ich habe das Gefühl, dass ich immer dem fahrenden Zug hinterhergelaufen bin.“

Bei Dyskalkulie helfe die einfache Wiederholung von Schulstoff nicht, bestätigt Höinghaus. „Nötig ist eine gezielte Lerntherapie, die den Kindern auf individuelle Weise einen Zugang zu Zahlen und Mengen verschafft.“ Die Suche nach geeigneten Therapeuten sei auf einem immer unüberschaubarer werdenden Fördermarkt jedoch nicht einfach. Ein Berufsbild „Dyskalkulie-Therapeut“ gebe es nicht. Auch in der pädagogischen Ausbildung finde Dyskalkulie kaum Berücksichtigung. „Viele Lehrer denken, dass sich das Problem mit fleißigem Lernen schon beheben lässt“, hat auch Helge Pfeffer erlebt.

Für ihn waren schlechte Mathematiknoten Schulalltag, was er durchaus als bedrohlich erlebte: „Dyskalkulie gefährdet den kompletten Schulabschluss.“ Mit großem Willen, Ehrgeiz und Fleiß hat er es dennoch zur mittleren Reife und zum Berufsabschluss gebracht und im vergangenen Jahr sogar sein Fachabitur bestanden. „Darauf bin ich ziemlich stolz.“

Der BVL plädiert dafür, Kindern mit Dyskalkulie in der Schule einen Nachteilsausgleich zu gewähren. Die Schüler sollten in Klassenarbeiten zum Beispiel Anleitungen für Rechenoperationen verwenden dürfen, so Höinghaus. „Ohne solche Hilfen werden die Kinder für ihre Störung bestraft.“ Sie wünscht sich auch, dass die Mathematiknoten bei Dyskalkulie-Schülern einen geringeren Stellenwert im Notendurchschnitt bekommen - oder die Schulen bei ihnen gänzlich auf Mathematiknoten verzichten.

Helge Pfeffer hat nach langer Suche zwei Teilzeitjobs in einem Fortbildungsinstitut und einem Cateringunternehmen gefunden - an seiner Rechenstörung stößt sich hier niemand. „Für mich ist das ein Schritt auf dem Weg in die Vollbeschäftigung.“