Gespräch mit einem Experten: Viele Suchtrisiken bei Kindern
Berlin (dpa) - Eltern können dem Sucht-Experten Rainer Thomasius zufolge einiges dafür tun, damit ihre Kinder nicht drogen- oder alkoholabhängig werden. Sie sollten sich nicht nur auf Schule und den Gesetzgeber verlassen.
Was kann dazu führen, dass Kinder und Jugendliche süchtig werden?
Rainer Thomasius: Studien haben gezeigt, dass mangelnde frühkindliche Bindungserfahrungen zwischen Kind und Eltern ein Risikofaktor sein können. Auch früh auftretende Verhaltensauffälligkeiten im Alter von etwa 12 bis 14 Jahren sind wichtige Risiken. Wenn solche Mädchen und Jungen auf Jugendliche treffen, die problematische Substanzen konsumieren, die Situation zu Hause und in der Schule schwierig ist, dann ist die Wahrscheinlichkeit, eine Sucht zu entwickeln, erhöht.
Was können das für Auffälligkeiten im Verhalten sein?
Thomasius: Bei Mädchen sind das vor allem Depressivität, Ängstlichkeit, Essstörungen und ein mangelndes Selbstwertgefühl. Bei Jungen sind es eher ADHS, Lügen, Stehlen und häufiges Raufen.
Woran erkennen Eltern, dass ihre Kinder alkohol- oder drogenabhängig sind?
Thomasius: Typisch ist ein Leistungsknick in der Schule. Die Noten verschlechtern sich in vielen Fällen rapide. Auch das Umfeld der Kinder ändert sich. Sie treffen sich oft nur noch mit anderen Konsumenten. Viele geben ihre früheren Freizeitaktivitäten auf. Außerdem berichten Eltern, dass ihre Kinder verschlossener sind, auch gereizt und aggressiv.
Was können Eltern tun, damit es gar nicht erst zu Abhängigkeiten kommt?
Thomasius: Eltern sollten eine sehr klare Haltung haben, was Tabak, Alkohol und Cannabis angeht. Sie sollten ihren Kindern zeigen, dass es auch viele andere Möglichkeiten gibt, Spaß und Geselligkeit zu erleben. Sie sollten selbst Vorbilder sein. Eltern haben oft hohe Erwartungen an den Gesetzgeber und die Schule. Doch die Erfahrungen zeigen, dass sie selbst den stärksten Einfluss auf ihre Kinder haben.
Gibt es Daten darüber, viele Kinder und Jugendliche in Deutschland abhängig sind?
Thomasius: Nein, eine solide Untersuchung dazu gibt es nicht. Eine solche Studie wäre sehr aufwendig und teuer. Daten aus der Krankenhausdiagnosestatistik zeigen, dass es in der Gruppe der unter 20-Jährigen jährlich etwa 23 000 Fälle von Alkoholvergiftungen nach so genanntem Komasaufen gibt. Die Zahlen lassen keine Rückschlüsse auf Abhängigkeiten zu, sind aber ein Indikator.
Zur Person: Prof. Dr. Rainer Thomasius ist Ärztlicher Leiter des Deutschen Zentrums für Suchtfragen des Kindes- und Jugendalters sowie der Suchtabteilung an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychotherapie und -psychosomatik im Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf.