Selbstverteidigung: „Schon die Stimme ist eine tolle Waffe“
Oldenburg (dpa) - Der kleine, durchtrainierte Mann mit den kurzen Haaren packt sein Opfer ganz plötzlich von hinten. Mit festem Griff umklammert er die Arme der rundlichen Frau. Doch die schreit aus Leibeskräften.
Sie knickt in der Hüfte zur Seite und schlägt mit der freigewordenen Hand dem Angreifer voller Wucht zwischen die Beine. Trainer Matthias Hohn, der sich für diese Übung gut gepolstert hat, ist zufrieden. „Wir zeigen ganz einfache Techniken, die vernünftig funktionieren und die sich der Körper leicht merken kann“, sagt der Selbstverteidigungsexperte.
An diesem Sonntagnachmittag leitet Hohn zusammen mit zwei seiner Karateschülerinnen einen ausgebuchten Kurs in Sandkrug (Kreis Oldenburg) für die örtliche Volkshochschule. Die Teilnehmerinnen lernen, wie effektiv eine starke Stimme, ein gezielter Hieb in den Schritt oder ein schneller Dreh des Handgelenks sein können. „Wir wollen, dass die Frauen gestärkt hier rausgehen und ihnen aufzeigen, dass sie viel mehr können, als sie zu Anfang des Kurses denken“, sagt Hohn.
Bei einigen der zwölf Teilnehmerinnen muss erstmal die Hemmschwelle sinken, dem Angreifer wehzutun. „Es gibt das Phänomen, dass Frauen den Täter schützen. Dabei müssen sie zusehen, dass sie selbst nicht zum Opfer werden“, sagt Hohn. Wenn der Täter hinterher 14 Tage nicht auf dem Hintern sitzen könne, habe er das auch verdient. Der Kampfsportrainer zeigt im Laufe des Nachmittags bewusst nur eine Handvoll Techniken, die die Frauen durch die wiederholte Anwendung in Rollenspielen verinnerlichen. „Wenn ihr in Stress kommt, müsst ihr nicht denken, sondern machen. Alles, was geht, ist richtig.“
„Gesetzlich ist eine Armlänge euer Bereich“, stellt Hohn zum Einstieg klar. „Und ihr habt schon mit der Stimme eine tolle Waffe.“ Die Neulinge lernen beispielsweise, Gegner auf Abstand zu halten, mit fester Stimme „Stopp!“ zu sagen und dem trotzdem nicht lockerlassendem Angreifer ins Gesicht zu schlagen. „Reduziert den Gegner auf Kopf, Hals und Genital“, ermuntert der Trainer die kleine Gruppe. Nach und nach tauen die Teilnehmerinnen auf, ihre Stimmen werden lauter und die Bewegungen sicherer.
Die Frauen üben in wechselnden Zweiergruppen. Damit sie zwischendurch auch mal beherzt zuschlagen oder treten, macht Hohn im Schutzanzug die Runde. Kopf, Schritt und Schienbeine des Sportlers sind dick gepolstert. Die Härte der Attacke bleibt in den von den Teilnehmerinnen zu Kursbeginn festgelegten individuellen Grenzen.
Zwischen die praktischen Übungen schiebt Hohn Wissenswertes zur Rechtslage. Und stellt Waffen wie den Schrill-Alarm vor. Der sieht aus wie eine Spraydose und erzeugt einen buchstäblich ohrenbetäubenden Lärm von 110 Dezibel. Zum Abschluss wird für jede Teilnehmerin eine „reale Notwehrsituation“ im abgedunkelten Raum simuliert. „Ich hab gemerkt, dass ich viel mehr Kräfte mobilisieren kann“, meint eine junge Frau, als sie außer Atem, aber glücklich aus dem Abschlusskampf kommt. Sie möchte auf jeden Fall den Fortgeschrittenenkurs besuchen.
In Oldenburg und den übrigen VHS im Nordwesten gehören eintägige oder aufs Semester verteilte Selbstverteidigungskurse seit Jahren zum Standardprogramm. „Mittlerweile gibt es ein ganz breites Spektrum“, sagt Christoph Steimer vom VHS Landesverband Niedersachsen. Das reiche von Jiu Jitsu, Wen Do und Do-Jo bis hin zur Selbstverteidigungstechnik Krav-Maga, die von der israelischen Armee entwickelt wurde. Neben reinen Abwehrtechniken stehen Aspekte wie Selbstbestimmung und Selbstbehauptung im Vordergrund. „Der Trend geht zum De-Eskalationstraining.“
„Für junge Mädchen und Frauen haben die Kurse nach den Vorkommnissen in Köln noch mal höheren Stellenwert bekommen“, sagt Steimer. In Hannover und Hildesheim beispielsweise seien die Angebote seit der Jahreswende deutlich stärker nachgefragt. In der Landeshauptstadt laufen zudem spezielle Verteidigungskurse für die weiblichen Bediensteten der Stadt Hannover. Ein gewachsenes Kursinteresse vermelden laut Steimer auch in der Nähe von Flüchtlingsunterkünften liegende VHS-Standorte. „Eine gesteigerte Nachfrage können wir nach den Vorkommnissen in Köln nicht verzeichnen“, heißt es hingegen bei der Volkshochschule Bremen.