Überreizt: Schreibabys fehlt es an Entspannung
Hamburg (dpa/tmn) - Hört das Baby nicht mehr auf zu schreien, reagieren viele Eltern mit Frust und Hilflosigkeit. Eine Anlaufstelle können Schreiambulanzen sein, die sich vor allem auf eines konzentrieren: Entspannung.
Die haben Kind und Eltern nötig.
Warm, satt, trocken und trotzdem Gebrüll: Manches Baby kommt einfach nicht zur Ruhe. Hinter dem Schreien steckt häufig eine Regulationsstörung. Schreibabys reagieren sehr empfindsam auf ihre Umwelt, neigen zur „Überreizung“. Eltern müssen lernen, zu entspannen und die Signale ihres Kindes besser verstehen.
Ist das Schreien meines Kindes normal? „Viele Eltern sind unsicher, ob ihr Kind überhaupt ein Schreibaby ist“, sagt Sabine Ulrich, psychotherapeutische Heilpraktikerin in Hamburg. Zur wissenschaftlichen Definition dient die sogenannte Dreier-Regel: Der Säugling ist meistens jünger als drei Monate, schreit mehr als drei Stunden täglich an mindestens drei Tagen der Woche und das länger als drei Wochen.
Aber auch Babys, die weniger oder unregelmäßiger schreien, versetzen ihre Eltern häufig in Sorge. „Der Schweregrad ist nicht entscheidend, sondern das gefühlte Problem“, sagt Ulrich, die seit acht Jahren betroffene Eltern berät. Auch Margret Ziegler, Kinderärztin bei der Münchener Sprechstunde für Schreibabys, findet die subjektive Belastung entscheidend: „Sobald Eltern sich überfordert fühlen, helfen wir.“
Die meisten Eltern sind bereits am Ende ihrer Kräfte, wenn sie in eine Schreiambulanz gehen, sagt Ulrich: „Alle hoffen, das Problem irgendwie noch selbst in den Griff zu bekommen.“ Und schaukeln die belastende Situation dadurch oft noch weiter hoch. Das Baby wird stundenlang geschleppt, gewippt, besungen. Der eigene Stress überträgt sich trotzdem auf das Kind. „In seltenen Fällen wird das Baby aus Wut oder Verzweiflung sogar geschüttelt“, sagt Ziegler. „Das dürfen Eltern natürlich auf gar keinen Fall tun, denn es kann schwere gesundheitliche Schäden hervorrufen.“
„Fast jedes fünfte Kind schreit in den ersten drei Lebensmonaten überdurchschnittlich viel“, sagt Paula Diederichs, Leiterin der Berliner SchreiBabyAmbulanzen und Körperpsychotherapeutin. Ursache sind nicht die berüchtigten Drei-Monats-Koliken, sondern eine Regulationsstörung beim Baby selbst. „In den ersten Lebenswochen prallen alle möglichen Sinneseindrücke ungefiltert auf das Baby, es kann zu einer Überreizung kommen“, erklärt Ziegler.
Warum das eine Kind viel schreit und das andere weniger, kann viele Gründe haben. „Manche Frauen haben schon Stress während der Schwangerschaft, die Stresshormone werden auf das Kind übertragen“, sagt Diederichs. Auch eine schwere Geburt oder belastende Lebensumstände wie ein Umzug oder eine Trennung können sich auf das Kind auswirken. „Manchmal setzen Mütter sich auch zu sehr unter Druck, weil sie alles perfekt machen wollen“, nennt Diederichs ein weiteres Problem.
Der erste Schritt in den Schreiambulanzen ist eine kinderärztliche Untersuchung: „Manchmal hat das Schreien auch gesundheitliche Gründe, etwa eine Milchunverträglichkeit“, sagt Ulrich. Danach folgt ein Gespräch mit den Eltern: „Wir wollen möglichst viel über das Leben mit dem Baby erfahren“, sagt Ziegler. Wann schreit es? Wie lange? Wie geht es den Eltern? Was tun sie, um das Baby zu beruhigen?
In München machen die Experten Videoaufnahmen von Eltern und Baby, in Berlin gibt es die Möglichkeit von Hausbesuchen. Danach folgen immer individuelle Lösungsstrategien: „Als erstes unterstützen wir die Eltern dabei, sich wieder entspannen zu können“, sagt Ziegler. „Wir suchen nach Entlastungsmöglichkeiten für den Alltag, zum Beispiel Auszeiten und Unterstützung für die Mütter“, ergänzt Diederichs. Hinzu kommen Entspannungstechniken für die Babys: „Mit Massagen, speziellen Griffen und Brummtönen versuchen wir, das Erregungsniveau der schreienden Kinder zu senken.“
Schritt für Schritt finden Eltern und Baby so wieder in einen ruhigeren Alltag zurück. Ulrich setzt auf Erholung: „Schreibabys sind häufig total erschöpft und übermüdet.“ Zunächst wird das Baby zwei Wochen lang darin unterstützt, wieder in den Schlaf zu finden. „Danach helfe ich Eltern und Baby mittels eines Schlaftrainings einen regelmäßigen Schlaf- und Wachrhythmus zu finden.“
Oft müssten Eltern erst lernen, die Signale des Kindes zu deuten. Blinzeln, Augenreiben, die starke Streckung des Rückens: „Wenn man die Körpersprache des Babys kennt, lässt sich eine Überreizung leichter vermeiden“, sagt Diederichs. Ganz wichtig sei es auch, die positiven Momente mit Baby wieder bewusster wahrzunehmen, empfiehlt Ziegler: „Die schönen Zeiten helfen dabei, die anstrengenden Phasen besser auszuhalten.“
Blitz-Verbesserungen dürften Eltern allerdings vom Besuch einer Schreiambulanz nicht erwarten: „Es braucht ein wenig Zeit, bis sich der Teufelskreis auflöst“, sagt Ziegler. Wichtig sei es, am Ball zu bleiben und nicht aufzugeben. Bei Familien mit besonderer Belastung kann auch ein Familienhelfer zum Einsatz kommen.