Wer bleibt mir? Offener Umgang mit HIV ist Gratwanderung
Berlin (dpa) - Ist über HIV schon alles gesagt? Auf der Welt-Aids-Konferenz in Australien geht es auch um die Gesellschaft. Wie viel Wissen gibt es - und wie viel Toleranz?
„So was wie Sie behandele ich nicht“, empörte sich der Hausarzt. „Keine Umarmungen mehr“, verlangte ein Kollege. „Mit Dir kann ich nicht aus einem Glas trinken“, bedauerte ein Freund. Steven (29) hat gelernt, mit solchen Zurückweisungen zu leben. Er ist HIV-positiv - und spricht es offen aus. „Dann siehst du, wer bei dir bleibt“, sagt er. Doch auch abschätzige Blicke bleiben und Kommentare wie: selbst schuld. Wie geht eine moderne Gesellschaft inzwischen mit HIV um - wie aufgeklärt und tolerant ist sie wirklich? All das wird auf der Welt-Aids-Konferenz in Australien (20. bis 25. Juli) auch eine Rolle spielen.
Wer die gelungenen deutschen Aids-Aufklärungskampagnen kennt, vom beliebten TV-Spot „Tina, was kosten die Kondome?“ bis hin zum Slogan „Mit HIV kann man fliegen“, kann von Stevens Berichten aus dem Berliner Alltag überrascht werden. HIV ein Riesentabu? „Berlin ist nicht so tolerant wie es scheint“, sagt er. „Bei HIV herrscht oft die totale Unwissenheit, gemischt mit Angst und Vorurteilen.“
Dass das Virus im Alltag in der Regel nicht übertragen werden kann, dass viele HIV-Positive dank moderner Therapien heute Pilot werden oder eine Familie gründen können - dieses Wissen sei in der Gesellschaft immer noch nicht verlässlich verankert, sagt auch Holger Wicht, Sprecher der Deutschen Aids-Hilfe. Kaum eine Krankheit werde mit solch einem Stigma belegt. Es sei wohl ihre Verbindung mit Sex, die diese starken Emotionen hervorrufe - bis hin zur Ausgrenzung von HIV-Positiven, die den Mut zur Offenheit haben.
Tabuisierung, Unwissen und Angst sind für die Deutsche Aids-Hilfe die natürlichen Feinde von Prävention - mit Folgen. Umfragen unter HIV-Positiven haben ergeben, dass sie Diskriminierung in allen Lebensbereichen erleben, von der Familie über den Freundeskreis bis hin zu Ärzten und zum Job. Eine Kündigung wegen HIV ist unzulässig, bekräftigte jüngst sogar das Bundesarbeitsgericht. Doch es ist die Sorge vor dem Verlust sozialer Kontakte, die viele HIV-Positive vor einem offenen Umgang mit ihrer Krankheit zurückschrecken lässt.
Dabei klingt die Ausgangslage gar nicht schlecht. „Deutschland hat sich für einen guten Weg entschieden“, bilanziert Wicht. „Es gibt Aufklärung und einen solidarischen Umgang mit Betroffenen.“ Und doch seien irrationale Ängste vor HIV und völlig falsche Vorstellungen auch hier einfach nicht totzukriegen. „Manchmal denke ich, wir sind in den 80er Jahren“, seufzt Wicht. Damals waren HIV und Aids rätselhaft und oft ein Todesurteil - und die Panik groß.
Heute sagt die Statistik, dass die Zahl der HIV-Neudiagnosen in Deutschland im vergangenen Jahr weiter gestiegen ist. Rund 3260 Fälle hat das Robert Koch-Institut registriert - etwa zehn Prozent mehr als 2012. Rund die Hälfte dieser Diagnosen wurde bei homosexuellen Männern gestellt. Die Statistik hat aber ihre Tücken. Sie kann die aktuelle Infektionsrate nicht widerspiegeln, weil zwischen Ansteckung und positivem Test Jahre liegen können.
Wer Steven zuhört, seinen Berichten über die Berliner Schwulenszene, kann über den Nutzen von Aufklärungskampagnen ins Grübeln kommen. „Es wird zu wenig über HIV geredet“, betont er. „Viele schauen bewusst weg, andere glauben, es könne sie nicht treffen. Viel zu wenige lassen sich testen, oft aus Angst vor dem Ergebnis.“ Auch Bisexuelle schwiegen, Frauen fragten kaum nach. Fast überall nur Verdrängung und Gleichgültigkeit.
In Chats heiße es zwar: Ich hätte gern einen Negativen, berichtet Steven. Doch in Disco, Sauna oder Darkroom herrsche dann das große Schweigen. Keine Fragen. Keine Antworten. Und wer bei Berliner Gesundheitsämtern nach einem HIV-Test frage, bekomme schon mal die pampige Antwort: „Nicht verhütet, oder was?“ Prävention sollte anders aussehen, findet Steven.
Die Aids-Hilfe sieht das anders. „Das Schutzverhalten in Deutschland ist weitgehend stabil, die Zahl der Neuinfektionen in Deutschland liegt im europäischen Vergleich auf einem niedrigen Niveau“, sagt Holger Wicht. „Auch das Testverhalten hat sich in den letzten Jahren verbessert.“
Und doch kommt es weiterhin zu neuen Infektionen. Steven sagt, dass es bei ihm eine Vergewaltigung war. Mit 12, eine Bekanntschaft aus dem Internet - und er völlig naiv. Mit 13 hatte er die ersten HIV-Symptome, doch sein Hausarzt tippte auf Grippe. Es war die Zeit, in der Steven seinen ersten Freund mit nach Hause brachte und zu seinen Eltern sagte: „Das ist eure Schwiegertochter. Und Enkel gibt's nicht.“ Erst mit 17 erfuhr er nach einem Test an der Charité, dass er HIV hat. „Ich dachte, jetzt ist mein Leben vorbei.“
Heute arbeitet Steven in einem Call-Center, mit der Therapie geht es ihm gut. Alle Kollegen wissen Bescheid, alle Freunde, die Eltern. Er hat gelernt abzuwägen, wann er es sagt und wie. Aber er sagt es. Die einzige Ausnahme sind seine Großeltern. Die guckten keine Patrick-Lindner-Shows mehr im Fernsehen, seit Patrick Lindner einen Mann hat, sagt Steven. „Es wäre wohl alles ein bisschen zu viel für sie.“ Stevens Freund Sebastian (29) streichelt ihm über den Arm. Er habe das alles schon gewusst, bevor sie zusammenkamen, sagt er. Es war kein Schock.